Vor eineinhalb Jahren eskalierte die Situation: Marco Baselgia knirschte nachts so stark mit den Zähnen, dass ein Weisheitszahn in zwei Teile zerbrach. Am folgenden Tag musste der 33-Jährige aus Zürich den Rest des Zahnes herausoperieren lassen. «Spätestens da wusste ich: Jetzt muss ich etwas tun», erzählt Baselgia.
Angefangen hatte alles einige Jahre davor. Immer öfters wachte Marco Baselgia morgens mit Kopfschmerzen auf. Auch der Nacken und der Kiefer schmerzten. Er sagt: «Alles war verspannt, und die Muskeln waren verhärtet.» Das jahrelange Knirschen der Zähne konnte man mit der Zeit sehen. Sie schliffen sich ab und wurden immer kleiner. Kleine Zahnteile splitterten ab. «Mit jeder Nacht wurden die Beschwerden schlimmer», sagt er.
Extreme Kräfte wirken auf die Zähne
Marco Baselgia ist kein Einzelfall. Jeder Zehnte knirscht so fest mit den Zähnen, dass er zum Zahnarzt muss. Das zeigen diverse internationale Studien. Zahnarzt Peter Frei aus Sursee LU sagt: «Beim Knirschen und Aufeinanderbeissen der Zähne wirken oft extreme Kräfte.» Die Folgen: Neben dem Abschleifen der Zähne kommt es auch zu Kieferschmerzen, Muskelverspannungen und migräneartigem Kopfweh.
Viele Zahnärzte empfehlen in dieser Situation eine Aufbiss-Schiene. Sie ist den Zähnen der Betroffenen angepasst und wird über die obere Zahnreihe gestülpt, damit die Zähne nicht direkt aufeinander reiben. So wird der Zahnschmelz nicht mehr beschädigt, und die Muskeln entspannen sich. Den Nutzen einer Aufbiss-Schiene sieht Peter Frei kritisch: «Sie lindert die Symptome nur so lange, wie sie getragen wird. Die Ursachen sind damit aber meist nicht beseitigt.» Das bestätigt auch das unabhängige internationale Forschernetzwerk Cochrane. Es hat dafür zahlreiche Studien verglichen.
Peter Frei sagt: «Bevor man sich eine solche Schiene anfertigen lässt, muss man die Ursache für das Knirschen klären.» Denn auch mangelhafte Füllungen, Kronen, Brücken oder Prothesen können der Grund sein, warum jemand mit den Zähnen knirscht. «In solchen Fällen nützt eine Aufbiss-Schiene nichts», so der Zahnarzt. Die Schienen sind auch teuer. Wer sie beim Zahnarzt anfertigen lässt, muss mit Kosten von 500 bis 800 Franken rechnen.
Einige Ärzte verordnen Physiotherapie. Dabei lösen die Therapeuten die verkrampften Kaumuskeln mittels einer Massage. Zudem üben Betroffene, wie sie ihren Kiefer selber lockern können. Zahnarzt Peter A. Zuber aus Winterthur ZH sagt: «Bei akuten Schmerzen hilft Physiotherapie. Aber wie die Zahnschiene bekämpft auch die Physiotherapie die Ursache des Knirschens nicht.»
Eine vorübergehende Massnahme bei starken Beschwerden können Medikamente sein. Sie reduzieren die Schmerzen und entspannen die Muskeln, sagt Peter A. Zuber. Sie machen aber müde und oft abhängig. Verzichten sollte man auf beruhigende Medikamente, etwa Antidepressiva oder Benzodiazepine.
Diese Mittel haben starke Nebenwirkungen und machen ebenfalls abhängig. Eine Untersuchung von Cochrane zeigte zudem: Betroffene, die solche Medikamente zu sich nahmen, knirschten genauso oft mit den Zähnen, wie solche, die keine Medikamente einnahmen. Als «absolut unangebracht» bezeichnet Peter A. Zuber den Einsatz von Botox gegen Zähneknirschen: «Mit diesem Nervengift riskiert man, dass es den Muskel ganz lähmt.»
All diese Massnahmen bekämpfen die Symptome – nicht aber die Ursache. Diese liegt meist tiefer – etwa bei Problemen in der Beziehung oder Überforderung am Arbeitsplatz. Zahnarzt Peter Frei rät Betroffenen, solche Stressursachen genauer anzuschauen: «Meist nehmen schon kleine Veränderungen Druck aus dem Alltag heraus.»
Psychotherapie hilft, die Ursachen zu verstehen
Bei zeitlich befristetem Stress verschwinden die Beschwerden oft von alleine. «Ist eine Prüfungsphase der Grund, dann hört das Zähneknirschen meist nach der letzten Prüfung auf», sagt Zahnarzt Zuber. Sind längerfristige Belastungen die Ursache, dann lohnt es sich aber, diesen auf den Grund zu gehen. Das gelingt am besten mit einer Psychotherapie, rät Peter A. Zuber. Dabei setzt man sich über längere Zeit intensiv mit sich auseinander. Aus der Praxis weiss Zuber aber: «Viele können sich dafür nicht motivieren.»
Wem Psychotherapie zu aufwendig ist, der kann es mit Entspannungsübungen versuchen. Diese lassen sich unkompliziert in den Alltag einbauen. Bei der progressiven Muskelentspannung zum Beispiel lernen Betroffene, einzelne Muskeln anzuspannen und wieder zu lockern. Übungsvideos findet man im Internet. Auch Yoga, Meditation, autogenes Training oder Spaziergänge im Wald können helfen – alles, was Körper und Geist entspannt.
Ein weiterer Ansatz ist die medizinische Hypnose. Sie wird von ausgebildeten Fachleuten angeboten. Das Prinzip: Im Unterbewusstsein werden belastende Situationen so bearbeitet, dass sie keinen Stress auslösen. «So baut man im Alltag Stress ab, und man knirscht weniger mit den Zähnen», sagt Peter A. Zuber.
Auch Marco Baselgia hat den Stress im Alltag reduziert. Er macht jeden Tag Entspannungsübungen. Dabei lockert er seinen Kiefer und massiert mit einem Tennisball den Nacken. Mit Erfolg: «Kopfschmerzen habe ich nur noch selten.»
Zudem schützt er nachts seine Zähne mit einer Aufbiss-Schiene und versucht, zwei Stunden vor dem Einschlafen ruhig zu werden: «Im Raum muss es still sein.» Aber auch im Beruf kam es zu einer Veränderung: «Ich arbeite heute nicht mehr im Schicht- und Pikettdienst.» Marco Baselgia knirscht noch immer mit den Zähnen, wenn auch viel weniger. Er ist trotzdem zuversichtlich, dass es irgendwann ganz verschwindet. «Es braucht einfach Geduld», sagt er.