Fast jedes dritte Baby kommt in der Schweiz per Kaiserschnitt zur Welt. Das ist im europäischen Vergleich eine der höchsten Kaiserschnittraten. Das Problem: Es ist ungeklärt, wie sich ein Kaiserschnitt langfristig auf das Kind auswirkt: Es gibt Hinweise, dass der Eingriff das Risiko für Übergewicht im späteren Leben erhöht. Zudem besteht der Verdacht, dass es einen Zusammenhang gibt mit Allergien, Asthma und Diabetes Typ 1. Das berichtet das unabhängige Internetportal Medizintransparent.at, das die Faktenlage zu medizinischen Themen prüft.
«Eingriff nur sinnvoll bei medizinischen Gründen»
Jetzt kritisiert der Schweizerische Hebammenverband: Fachpersonen sollten nicht routinemässig zu einem Kaiserschnitt raten. Der Eingriff sei nur sinnvoll, wenn es einen medizinischen Grund dafür gibt. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Plazenta den Geburtskanal verschliesst. Hingegen brauche es keinen Eingriff, wenn die Frau bei einer früheren Geburt bereits einen Kaiserschnitt hatte. Es komme sehr selten vor, dass die Gebärmutter danach bei einer natürlichen Geburt reisse. Diese gelinge meist problemlos und führe zu weniger Blutungen, halten die Hebammen fest.
Der Hausarzt Reiner Bernath aus Solothurn sagt: «Man kann davon ausgehen, dass die hohe Kaiserschnittrate nicht nur medizinische Gründe hat.» Bernath betreute jahrelang Hausgeburten. Komme es etwa zu einem Geburtsstillstand und gehe es der Mutter und dem Kind gut, könne man abwarten. So würden es die Hebammen lernen.
Hebammen raten von weiteren Eingriffen ab
Auch Nina Kimmich, Leitende Ärztin der Klinik für Geburtshilfe am Universitätsspital Zürich, sagt: «Fachpersonen sollten nicht routinemässig und vor allem nicht ohne Vorgespräch zu einem Kaiserschnitt raten.» Trotzdem: Die Wahl des Geburtswegs müsse die Frau treffen. «Es gibt Frauen, die zum Beispiel das Risiko von Schäden des Beckenbodens nach einer natürlichen Geburt nicht tragen wollen. Das ist zum Teil nachvollziehbar.» Hebammen seien seltener mit den Langzeitfolgen für die Mutter konfrontiert als Ärzte, sagt Kimmich. Daher werde dieser Aspekt eher ausser Acht gelassen.
Der Verband der Hebammen steht auch anderen Therapien und Massnahmen bei der Geburt kritisch gegenüber. Mit dem Verein Smarter Medicine haben die Hebammen fünf umstrittene Methoden bei der Geburt unter die Lupe genommen. Smarter Medicine will Patienten aufklären, damit sie in der Lage sind, «kluge Entscheidungen» zu treffen. Im Verein wirken der Hebammenverband, die Stiftung für Konsumentenschutz und die Stiftung SPO Patientenschutz mit. So beurteilen die Hebammen folgende Methoden bei der Geburt:
- Geburt einleiten: Es gibt verschiedene Methoden, um die Geburt einzuleiten. Zum Einsatz kommen etwa Medikamente wie Oxytocin (siehe auch «Wehen verstärken»). Die Hebammen öffnen zudem die Fruchtblase oder lösen sie vom Hals der Gebärmutter ab. Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass der Anteil eingeleiteter Geburten leicht zugenommen hat – in den Jahren 2012 bis 2017 um 2,5 Prozent. Die Hebammen kritisieren: Die Geburt sollte man nicht vor der 40. Schwangerschaftswoche künstlich einleiten. Das gelte auch für geplante Kaiserschnitte. Andernfalls müssten Babys häufiger auf die Intensivstation, zudem steige das Risiko für schwere Infekte und Atemprobleme. Ein früheres Einleiten der Geburt sei einzig angezeigt, falls es dafür einen medizinischen Grund gibt – etwa wenn zu wenig Fruchtwasser vorhanden ist, die Fruchtblase vorzeitig platzt oder das Kind so gross ist, dass es eventuell nicht mehr durch den Geburtskanal passt. Auch Diabetes in der Schwangerschaft gilt häufig als Grund. Eine Übersicht der Forschergemeinschaft Cochrane von 2018 zeigt jedoch: Es gibt nicht genügend Studien, die zeigen, dasss das frühere Einleiten der Geburt bei Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes von Vorteil ist.
- Wehen verstärken: Oft bekommen Frauen Medikamente, um die Wehen zu unterstützen, wenn die Geburt nicht schnell genug vorangeht. Die Hebamme Marianne Indergand-Erni aus Kerns OW sagt aber: «Wehenmittel führen häufig zu Komplikationen und weiteren Eingriffen.» Eine mögliche Komplikation ist der sogenannte Wehensturm. Dabei kommen die Wehen zu stark oder zu häufig. Das kann beim Kind zu unregelmässigem Herzschlag und bei der Mutter zu Herzrasen führen. Ein bei Wehen eingesetztes Medikament ist zum Beispiel Oxytocin. Man spricht auch vom Wehentropf, weil Ärzte es den Frauen mit einer Infusion verabreichen. Oxytocin ist ein Hormon, das Frauen bei der Geburt ausschütten. Es stimuliert die Gebärmutter. Gehe es dem Baby und der Mutter gut, gebe es allerdings keinen Grund, die Wehen mit Medikamenten zu unterstützen, schreiben die Hebammen. Spontane Wehen seien sicherer für Mutter und Kind. Gehe die Geburt nicht voran, sollten Frauen besser die Position wechseln, sich bewegen oder etwas Kleines essen oder trinken.
- Nabelschnur trennen: Laut den Hebammen ist es unnötig, die Nabelschnur direkt nach der Geburt durchzuschneiden. Man solle mindestens eine Minute damit warten. Denn die Nabelschnur pulsiert nach der Geburt weiter und versorgt das Baby mit wichtigen Stoffen aus der Plazenta. Das sei besonders bei Frühchen wichtig, sagt Ärztin Nina Kimmich. Eine Studienübersicht von Cochrane im Jahr 2019 bestätigt das. Ob man nur eine oder doch mehrere Minuten warten sollte, ist laut den Forschern jedoch nicht ausreichend geklärt. Hausarzt Reiner Bernath ist allerdings überzeugt: «Eine Minute ist zu kurz.» Warte man mehrere Minuten, bis man die Nabelschnur trenne, erhalte das Kind zusätzliche wertvolle Stammzellen aus der Plazenta.
- Dammschnitt: Der Damm ist das Muskelgewebe zwischen Scheide und After. Bei der Geburt kann er reissen. Deshalb machen Fachleute manchmal vorsorglich einen Schnitt. Das ist schon lange umstritten (Gesundheitstipp 12/2011). Auch der Hebammenverband lehnt den Dammschnitt ab: Diesen Eingriff sollten Fachpersonen nur machen, wenn das Baby in der letzten Phase der Geburt dringend Hilfe benötige. Andernfalls schade er mehr, als er nütze. Dazu sagt Hausarzt Bernath: «Ein Dammriss heilt besser als ein Dammschnitt.» Wenn überhaupt, reisse das Gewebe an der schwächsten Stelle. Dadurch entstehen laut Bernath weniger schwere Wunden als bei einem Schnitt. Auch die Position der Frau beim Gebären hat einen Einfluss. Bei Geburten in Rückenlage sei ein Dammschnitt häufiger.
Aufruf: Welche Erfahrungen machten Sie im Gebärsaal?
Schreiben Sie uns: Redaktion Gesundheitstipp, «Gebärsaal», Postfach, 8024 Zürich, redaktion@gesundheitstipp.ch