Vor fünf Jahren musste Cornelia Walther ihren Job als Filialleiterin eines Modegeschäfts aufgeben. Ärzte stellten fest, dass die heute 49-Jährige aus Herzogenbuchsee BE an einer mittelschweren, wiederkehrenden Depression erkrankt war. In der Folge meldete ihr Arbeitgeber sie bei der Invalidenversicherung (IV) an.
Die Abklärungen der IV zogen sich in die Länge. Im Frühling 2015 erlebte Cornelia Walther einen Schock: Die IV-Stelle des Kantons Bern schrieb ihr, sie müsse ein Antidepressivum schlucken. Zudem müsse sie sich jeden Monat einem Bluttest unterziehen und das Resultat der IV senden. Mit den Bluttests wollte die Berner IV-Stelle herausfinden, ob die Patientin die verordneten Medikamente einnahm. Gleichzeitig drohte die Versicherung: «Wir weisen Sie ausdrücklich darauf hin, dass wir die Erhebungen einstellen und Nichteintreten beschliessen können, sollten Sie unserer Aufforderung innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkommen.»
«Der Brief hat mich zusätzlich belastet»
Cornelia Walther fühlte sich von der Versicherung genötigt und bedroht: «Der Brief der IV hat mich zusätzlich belastet in einer schweren Zeit.» Vom Nutzen der Medikamente war sie nicht überzeugt. «Ich verstand nicht, warum ich sie nehmen sollte.» Die Ärzte hätten ihr nicht plausibel erklären können, warum die Medikamente ihr gut tun sollten. Die Psychiater hatten ihr starke Medikamente verordnet: Venlafaxin gegen Depressionen, Sequase gegen Schizophrenie, Temesta gegen Angstzustände und das Schlafmittel Stilnox. Alle können schwere Nebenwirkungen haben.
Trotz ihrer Zweifel schluckte Cornelia Walther die Medikamente. In der Folge nahm sie 15 Kilo zu – eine bekannte Nebenwirkung von Sequase.
Juristen kritisieren das Vorgehen der Berner IV-Stelle. Der Zürcher Rechtsanwalt Guido Brusa sagt, die Forderung der IV sei verfassungs- und rechtswidrig. Die Bluttests entsprechen laut Brusa einer Zwangsbehandlung. Das sei im Bereich der Sozialversicherungen nicht erlaubt. Zudem verletze die Invalidenversicherung wichtige Grundrechte wie die Menschenwürde, das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit und das Recht auf ein faires Verfahren. Auch der Rechtsanwalt Viktor Györffy aus Zürich sagt, die Forderung nach Bluttests sei ein «schwerer Eingriff in die Persönlichkeit». Damit zeige die IV «Misstrauen und Geringschätzung» gegenüber der Patientin und den behandelnden Ärzten.
Dazu kommt: Die verschriebenen Medikamente sind umstritten. Der Psychiater Piet Westdijk aus Basel sagt: «Es ist nicht bewiesen, dass eine bestimmte Dosis von Psychopharmaka die Gesundheit der Patienten positiv beeinflusst.» Bei einem Teil der Patienten könnten die Mittel helfen, bei anderen würden sie den Zustand verschlimmern. Besonders stossend sei die Forderung nach Bluttests, wenn die IV das Einsenden der Resultate mit der Bewilligung einer Rente verknüpft.
Thomas Ihde, Chefarzt der Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken AG in Unterseen BE, sagt: Betroffene, die Leistungen der IV wünschen, sollten auch eine Behandlung ohne Medikamente wählen können. Es sei erwiesen, dass gewisse Formen der Psychotherapie bei Depressionen genau so gut wirken wie Medikamente. Massnahmen wie die Bluttests wirken sich laut Ihde «sehr ungünstig» auf den Heilungsprozess aus.
Anspruch auf IV-Rente verweigert
Die IV liess sich viel Zeit, um das Gesuch von Cornelia Walther zu behandeln: Im September 2016 – drei Jahre nach der Eingabe – schrieb ihr die IV-Stelle des Kantons Bern, sie habe keinen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung. Begründung: Es sei nicht bewiesen, dass die Patientin so krank sei, um nicht arbeiten zu können. «Das war ein weiterer Schlag für mich», sagt Cornelia Walther. Heute arbeitet sie als Künstlerin und bezieht Sozialhilfe – wie viele psychisch beeinträchtigte Menschen, denen die IV die Rente in den letzten Jahren aus Spargründen gekürzt oder gestrichen hat («Saldo» 1/2017).
Das Bundesamt für Sozialversicherungen entgegnet, die Versicherten müssten das Zumutbare für ihre Gesundheit tun, damit sie nicht ungerechtfertigt Leistungen beziehen. Im Zweifelsfall dürfe das die IV «im Interesse aller Beitragszahler» kontrollieren. Damit stelle die IV zudem sicher, dass alle Versicherten gleich behandelt werden. Es gebe dafür eine gesetzliche Grundlage. Sozialversicherungen könnten den Patienten Leistungen kürzen oder verweigern, falls sie sich einer zumutbaren Behandlung verweigern.
Zudem sagt das Bundesamt: Wenn eine versicherte Person die Therapie ablehnt, die von den behandelnden Ärzten und den Fachleuten der IV als erfolgversprechend bewertet wird, könne die IV dieser Person bestimmte Auflagen machen. Dazu gehöre auch eine «angemessene Kontrolle», ob die Person bei der Therapie mitmacht.
Die IV-Stelle des Kantons Bern sagt, ein Gutachten habe gezeigt, dass bei Cornelia Walther die gesundheitlichen Voraussetzungen für eine Rente nicht erfüllt seien. Die IV-Stelle geht in ihrer Stellungnahme nicht auf die Kritik der Fachleute ein.