Beim Lesen schaue ich jedes Wort genau an. Ich muss es entziffern, Buchstabe für Buchstabe. Das dauert sehr lange. Manchmal weiss ich am Ende eines Textes nicht mehr, was am Anfang stand. Deshalb mache ich mir beim Lesen oft Notizen. Dann dauert es aber noch länger. In der gleichen Zeit können andere mehrere Texte überfliegen und sind mir so immer ein paar Schritte voraus. Probleme habe ich auch beim Schreiben. Ich mache viele Fehler. Manchmal sitze ich stundenlang vor einem E-Mail und lese es immer wieder durch. Ich schicke es erst ab, wenn ich sicher bin, dass es keine Fehler enthält.
Ich habe Legasthenie. Trotzdem studiere ich an der Universität Zürich Kunstgeschichte und Archäologie des Mittelalters. Mich faszinieren vor allem mittelalterliche Bauten wie Burgen, Kirchen oder Holzhäuser. Die Bautechnik ist unglaublich. Die Gebäude sind so alt und stehen immer noch! Für mich ist das magisch. Ich bin ehrgeizig: In meinem Studium möchte ich unbedingt gute Noten haben und brillieren. Doch das Studium ist ein riesiger Stress: Es gibt viel zu lesen und zu schreiben. Deshalb muss ich einfach immer fleissig sein. Hobbys, die ich früher hatte, gab ich auf: Ich habe keine Zeit mehr dafür. Wenn ich trotz aller Mühen negative Rückmeldungen bekomme, tut mir das weh. Zum Beispiel stand einmal unter einer Arbeit: «Man versteht den Inhalt nicht.» Oder: «Das ist nicht Universitätsniveau.»
Den Stress spüre ich auch körperlich. Schon als Kind hatte ich oft Bauchweh, besonders vor Prüfungen in der Schule. Noch heute habe ich eine sensible Verdauung. Mir ist oft schlecht, und manchmal muss ich wegen Durchfall ständig auf die Toilette. Am schlimmsten ist es während Prüfungen. Dann nehme ich manchmal Beruhigungstropfen.
Zum Glück studiert eine meiner Freundinnen die gleichen Fächer. Manchmal fasst sie Texte für mich zusammen. Im Gegenzug berichte ich ihr, was die Professoren in den Vorlesungen sagten. Bei Prüfungen bekomme ich einen sogenannten Nachteilsausgleich: Ich habe mehr Zeit und darf die Prüfung in einem separaten Raum machen. Das ist Gold wert. Doch ansonsten gelten für mich dieselben Regeln.
Die Legasthenie schwächt mein Selbstvertrauen. Ich bin schnell verunsichert. Ich frage mich oft, ob ich etwas richtig verstanden habe oder ob ich einen Fehler gemacht habe. In der Schule galt ich als dumm und unfähig. Ich sah ja auch, dass andere einen Text sofort verstanden. Ich hingegen sass ewig davor und verstand ihn nicht. Manchmal zweifelte ich selbst an meinen Fähigkeiten. Niemand kam auf die Idee, ich könnte Legasthenie haben. Nach der Schule machte ich zunächst eine Lehre zur Dentalassistentin. Schon im ersten Lehrjahr merkte ich: Das ist nicht mein Traumberuf. Ich holte die Matura nach. Das war nicht einfach: Ich musste viel Zeit investieren. Erst da liess ich mich auf Legasthenie untersuchen. Denn ich dachte: Wenn ich an die Universität will, muss ich wissen, was los ist.
In einem Jahr bin ich hoffentlich mit dem Studium fertig. Mein Traum ist es, in der Bauforschung oder bei der Denkmalpflege zu arbeiten. Nun muss ich aber noch die grosse Abschlussarbeit schaffen.
Lese- und Rechtschreibstörung: Die Ursachen sind unklar
Die Ursachen von Legasthenie oder Dyslexie sind nicht vollständig geklärt. Fachleute vermuten, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen. Betroffene verarbeiten wahrscheinlich die Sprache anders. In der Schule führt dies zu schlechten Noten. Deshalb gilt in der Schweiz seit einigen Jahren der sogenannte Nachteilsausgleich: Zum Beispiel bekommen Betroffene bei Prüfungen mehr Zeit zugesprochen, oder die Rechtschreibung wird bei ihnen weniger oder gar nicht beachtet.
Information und Beratung: Verband-dyslexie.ch, Tel. 044 803 95 34