Ein Wintermorgen im Pflegezentrum Bauma im zürcherischen Tösstal. Lucia Witte verlässt ihr Zimmer auf der geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Sie steuert ihren Rollator geschickt in Richtung Besuchercafé. Der Wagen ist schwer beladen mit Briefen, Gutachten und Fotos von früher. Sie dokumentieren ein Leben, das ganz anders verlief, als sie es sich als junge Frau erhofft hatte.
Lucia Witte ist 85 Jahre alt. Sie ist noch immer eine schöne Frau, gepflegt, die Augen leuchtend blau. Was auffällt, sind ihre winzigen Pupillen: Sie sind kleiner als Stecknadelköpfe. Der Grund: Chirurgen operierten sie 1972 in Zürich am Gehirn. Sie sägten ihre Schädeldecke auf und zerschnitten Nervenbahnen. Fachleute sprechen von Lobotomie. Mit diesem Eingriff wollte man damals psychisch kranke Patienten zur Ruhe bringen.
Laut der Zürcher Historikerin Marietta Meier waren mehrheitlich Frauen von Lobotomien betroffen. Manche Patientinnen waren aggressiv, andere laut, oder sie störten den Alltag in einer Klinik. Mit dem Eingriff fand sich Lucia Witte nie ab: «Es ist unglaublich, was sich die Ärzte geleistet haben.» Die Operation habe ihr so zugesetzt, dass sie nie mehr gesund geworden sei.
Lobotomien macht man heute nicht mehr. Aber Zwangseinweisungen gibt es noch immer: In der Schweiz kommen Jahr für Jahr fast 16 000 Personen zwangsweise in die Psychiatrie. Im europäischen Vergleich sei dies viel, schreibt die Stiftung Pro Mente Sana in einem Positionspapier. Die Stiftung kritisiert: «Fürsorgerische Unterbringungen werden viel zu oft ausgesprochen.» Dabei sollten sie die «allerletzte Möglichkeit» sein.
«Psychiatrie heilt nicht, sondern macht krank»
Lucia Witte erlebte unzählige solche Einweisungen. Fast 35 Mal musste sie in die Zürcher Universitätsklinik Burghölzli. Sie verbrachte fast 60 Jahre in der Psychiatrie. Das hinterliess Spuren. Der Psychiater Piet Westdijk aus Brugg AG schrieb 2012 ein umfassendes Gutachten über Lucia Witte. Darin kam er zum Schluss, sie habe eine «andauernde Persönlichkeitsveränderung». Diese sei erst durch «Extrembelastungen» in der Psychiatrie entstanden. Westdijk: «Ihr Fall ist ein typisches Beispiel dafür, dass die Psychiatrie viele Leute nicht heilt, sondern krank macht.» Witte könne nicht mehr gesund werden – «nicht trotz, sondern wegen der Psychiatrie», so Westdijk.
Dabei hatte Lucia Wittes Leben hoffnungsvoll begonnen. Denn sie war musisch begabt: Sie liess sich zur Pianistin ausbilden und gab schon als 16-Jährige Konzerte. Bald unterrichtete sie Schüler. Daneben arbeitete sie im Warenhaus Jelmoli. Als sie genug Geld hatte, entschloss sie sich zum Konzertdiplom und nahm Stunden bei einem Genfer Klavierlehrer. Witte verliebte sich in ihn. «Wir verlobten uns», erinnert sie sich. Kurz darauf fuhr sie nach Zürich und erzählte ihrer Schwester davon. Danach rief sie ihren Verlobten an, um ihm zu berichten, dass sie gut nach Hause gekommen sei. Doch da meldete sich eine Frau am Telefon. «Sie sagte mir, sie sei seit acht Tagen mit ihm verheiratet.»
Diese Enttäuschung warf die damals 29-Jährige aus der Bahn. Sie weinte und wollte sofort nach Genf fahren, um bei der Gemeinde zu klären, ob ihr Lehrer wirklich verheiratet war. Ihre Eltern überzeugten sie, stattdessen zum Hausarzt und schliesslich zum Psychiater zu gehen. Ein Beruhigungsmittel verweigerte sie. So wies der Arzt sie Anfang 1966 in die Psychiatrische Kli-nik Hohenegg in Meilen ZH ein.
Diagnose: «Liebeswahn»
Die Diagnose lautete erst «Liebeswahn» und schliesslich Schizophrenie. Eine Begründung dafür fehlte. Auch später hätten die Ärzte «starr an der Diagnose Schizophrenie festgehalten», kritisiert Westdjik. Er sagt: «Lucia Witte war nicht krank, sondern benahm sich lediglich auffällig.» Erst in den Kliniken sei eine posttraumatische Belastungsstörung entstanden, die «durch die Zwangstherapien verstärkt wurde».
Hinzu kommt: Lucia Witte musste über Jahrzehnte gegen ihren Willen starke Medikamente nehmen. Fällt ihr im Gespräch ein Wort nicht ein oder verliert sie den Faden, sagt sie: «Das ist wegen der vielen Medikamente.» Gutachter Piet Westdijk bestätigt: «Sie wusste, dass die Mittel für sie nicht gut sind.» Er sagt: «Als ich gelesen habe, wie man ihr ohne Rücksicht auf Risiken Medikamente gab, wurde mir schlecht.»
Denn Lucia Witte reagierte empfindlich auf die Medikamente, etwa auf das Mittel Leponex gegen Schizophrenie. Es führte zu Schmerzen und Fieberzuständen. Das Mittel war damals noch gar nicht zugelassen. Man gab es ihr, obwohl in der Akte steht: «Die Patientin hat erstaunlich viel Gesundes: Sie kann sehr warme Herzlichkeit ausstrahlen und völlig normal Anteil am Schicksal von Mitpatientinnen nehmen.» Gutachter Westdijk sagt, die Kliniken seien stets ähnlich vorgegangen. «Zuerst beharrten sie auf der ursprünglichen Diagnose und gaben ihr Medikamente.» Wenn Witte darauf nicht reagierte wie erhofft, hätten sie die Mittel gewechselt. Sagte sie, dass sie aus der Klinik austreten wolle, sprachen die Ärzte von «autistischem Verhalten».
Zwangsspritzen und Dämmerkuren
Witte wehrte sich mit Hungerstreiks. Die Kliniken reagierten mit weiteren Medikamenten, Dämmerkuren, Zwangsspritzen, Isolation und mit Therapien, die man heute nicht mehr macht. So musste sie eine Insulinschocktherapie über sich ergehen lassen: Man gab der Patientin Insulin und führte so künstlich eine Unterzuckerung herbei. Die Ärzte hielten die Patientin dann minutenlang im Koma. Mit einer Spritze holte man sie wieder zu Bewusstsein. Heute weiss man, dass das nichts nützt. Auch zur Elektrokrampfbehandlung kam es. Dabei löst man mit elektrischem Strom epileptische Anfälle aus.
Lucia Witte sagt: «Ich habe ein paar Mal versucht, mir das Leben zu nehmen. Ich konnte einfach nicht mehr.» Noch immer wünscht sie sich sehnlichst, selbständig leben zu können. Laut Gutachter Piet Westdijk sollte Lucia Witte selbst bestimmen können, wie sie leben möchte. Zudem habe sie ein Recht auf Entschädigung. Allerdings sei ihr «über all diese Jahre seit 1966 so viel Unrecht angetan worden, dass dieses nie beglichen werden könnte».
So wehren sich Betroffene gegen Zwangsmassnahmen
Fürsorgerische Unterbringung
- Unterschreiben Sie nie gegen Ihren Willen ein Dokument, in dem es heisst, Ihr Aufenthalt in der Klinik sei freiwillig.
- Informieren Sie im Fall einer Einweisung sofort Ihre Angehörigen oder eine Anlaufstelle. Diese können für Sie einen Anwalt organisieren.
- Die Frist für eine Beschwerde gegen eine Einweisung beträgt zehn Tage. Dafür braucht es keine Begründung. Lassen Sie die Beschwerde von einem Anwalt schreiben.
Infos und Anlaufstellen
Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858, Psychex, Tel. 0848 00 00 33