Vor zwei Jahren operierten Chirurgen Denise Eggli (Name geändert) am Herzen. Sie bekam vier Bypässe, um das Blut an verstopften Gefässen vorbei zu leiten. Kurze Zeit später empfahl ihr ein Herzmediziner, sich auch einen Herzschrittmacher einsetzen zu lassen. Dieser Rat überzeugte die 76-Jährige nicht. «Ich wollte mich nicht schon wieder operieren lassen», sagt sie. Deshalb liess sie sich am Universitätsspital Zürich von einem zweiten Herzspezialisten nochmals gründlich untersuchen. Eine Woche lang mass der Arzt ihre Herzströme. «Dann sagte er mir, dass mein Herz gesund sei und dass ich momentan keinen Herzschrittmacher brauche», erzählt Eggli.
Der Fall zeigt: Eine Zweitmeinung kann unnötige Eingriffe und viel Geld sparen. Der pensionierte Basler Chefarzt Daniel H. Scheidegger sagt: «Wenn man sich aus irgendeinem Grund unwohl fühlt mit dem Bescheid eines Arztes, sollte man eine Zweitmeinung einholen.» Vor allem wenn es um einen grossen Eingriff geht, der nicht dringend ist.
Studien belegen Nutzen von Zweitmeinungen
Studien bestätigen, dass sich eine Zweitmeinung lohnt. Eine Übersichtsstudie des deutschen Medizinforschers Max Geraedts zeigte, dass jeder vierte Arzt eine Operation für unnötig hält, die ein anderer Mediziner zuvor empfohlen hat. Besonders oft kommt dies bei den Fachgebieten der Orthopädie, der Frauenmedizin und der Urologie vor. Die Studie erschien im «Krankenhaus-Report 2013» der Krankenkasse AOK.
Besser keinen Arzt aus derselben Stadt fragen
Patienten sollten die Zweitmeinung bei einem unabhängigen Arzt einholen. Deshalb empfiehlt Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser: «Am besten sucht man einen Arzt in einer anderen Stadt.» Zudem sollte man für die Zweitmeinung nicht zu einem Mediziner gehen, den der erste Arzt empfiehlt, so Walser. Es sollten auch nicht beide Ärzte an Universitätskliniken arbeiten.
Wenn die Zweitmeinung den Ratschlag des ersten Arztes bestätigt, hat der Patient die Gewissheit, dass die empfohlene Behandlung die richtige ist. Schwieriger wird es, wenn zwei Ärzte abweichende Ratschläge geben. Dann gelten folgende Faustregeln:
- Knochen und Gelenke: Wenn ein orthopädischer Chirurg eine Operation am Bewegungsapparat empfiehlt und der zweite Arzt davon abrät, kann man auf die Operation vorläufig verzichten. Daniel Tapernoux, Leiter Beratung bei der Patientenorganisation SPO, sagt: «Es ist bekannt, dass viele orthopädische Eingriffe nicht nötig sind.»
- Herz: Sind zwei Ärzte unterschiedlicher Meinung, ist der Entscheid schwierig. Für den Herzspezialisten Franz H. Messerli aus Bern wiegt die Meinung eines Arztes stärker, der keine finanziellen Interessen am Eingriff hat. Geht es um eine Herzoperation, sollte man also einen präventiven Kardiologen fragen, keinen Chirurgen. Der Entscheid für oder gegen einen Eingriff hängt laut Messerli auch vom Alter des Patienten ab: «Je älter der Patient ist, umso eher kann man auf eine Operation verzichten.»
- Krebs: Die Behandlung wird immer komplexer. Deshalb gibt es in grösseren Spitälern sogenannte Tumorboards. Dabei besprechen mehrere Ärzte aus verschiedenen medizinischen Fachrichtungen die Therapie. Der St. Galler Krebsspezialist Thomas Cerny sagt: «Wenn ein interdisziplinäres Gremium eine Operation empfiehlt, ist eine Zweitmeinung meist überflüssig.» Es müsse sich aber um ein echtes Zusammentreffen der beteiligten Ärzte handeln, nicht nur eine kurze telefonische Absprache.
Allgemein gilt: Empfehlen zwei Ärzte unterschiedliche Behandlungen, sollte der Patient dem Arzt vertrauen, der besser auf seine Bedürfnisse eingeht. Daniel Tapernoux rät: «Man kann durchaus auch auf sein Bauchgefühl hören.»
Wenn zwei Ärzte sich nicht einig sind, können Patienten eine Drittmeinung einholen. Herzspezialist Franz H. Messerli sagt: «Dabei ist es besonders wichtig, den Arzt sorgfältig auszuwählen und darauf zu achten, dass er keine finanziellen Interessen an der Operation hat.»
Zweifelhafte, teure Internetportale
Seit ein paar Jahren gibt es eine neue Möglichkeit: Portale wie Meinezweitmeinung.ch bieten Gutachten von Ärzten übers Internet an. Die Patienten müssen ihre Beschwerden in ein Online-Formular eingeben und Dokumente einsenden. Ein Arzt schickt dann dem Patienten innert zehn Tagen seine Einschätzung. Dafür verlangt das Portal 450 Franken. Der Chefarzt Daniel H. Scheidegger empfiehlt Online-Zweitmeinungen nicht. Der Grund: «Der Arzt muss den Patienten persönlich sehen.» Und Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser kritisiert: «Der Preis für diese zweifelhafte Dienstleistung ist übertrieben hoch.»
Zur Kritik sagt die Firma Aware Plus, die das Online-Portal betreibt, die Ärzte könnten bei den meisten Fällen aufgrund der schriftlichen Unterlagen eine Beurteilung abgeben. Bei Bedarf würden sie Rückfragen an die Patienten stellen. Falls nötig, sei auch ein persönliches Gespräch möglich.
Jede Krankenkasse hat eigene Regeln, ob sie Zweitmeinungen zahlt. Bei Helsana sind Zweitmeinungen für Privat- und Halbprivatversicherte gratis. Swica-Mitglieder erhalten beim Telemedizin-Portal Santé24 oder bei Meinezweitmeinung.ch kostenlos Beratung. Concordia bietet für Zusatzversicherte eine Gratis-Beratung beim Luzerner Kantonsspital an.
Tipps: So erhalten Sie eine gute Zweitmeinung
- Eine Zweitmeinung ist sinnvoll, wenn es um einen grossen, teuren Eingriff geht, der nicht dringend ist – also nicht bei einem Notfall.
- Ein persönliches Gespräch mit dem Arzt gehört dazu. Nehmen Sie alle Unterlagen wie Röntgenbilder und Arztberichte zum Gespräch mit.
- Fragen Sie den Arzt, welche Vor- und Nachteile die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten haben.
- Fragen Sie den Arzt auch, welche Folgen entstehen, wenn Sie auf eine Operation verzichten. Manchmal kann man problemlos mit einem Eingriff zuwarten.
- Fragen Sie Ihre Krankenkasse, unter welchen Bedingungen sie die Kosten übernimmt.