Meine grösste Angst ist, dass es bei mir irgendwann ganz dunkel wird. Es fehlt nicht mehr viel, bis sich meine Netzhaut vollständig ablöst. Ich sehe noch zu etwa zwei Prozent. Warum sich die Netzhaut ablöst, ist unklar. Seit meinem achten Lebensjahr sehe ich immer weniger. Schon in der zweiten Primarklasse konnte ich nicht mehr erkennen, was an der Wandtafel stand. Es kam mir vor, als blickte ich von der falschen Seite durch ein Fernrohr. Zum Lesen und Schreiben bekam ich eine Lupenbrille.
Doch mit dem linken Auge konnte ich bald nicht mehr auf eine bestimmte Stelle fokussieren. Ich wechselte in eine Sonderschule für Sehbehinderte und lernte die Blindenschrift Braille. Ich wäre gern Tierpflegerin geworden. Doch ich stiess schnell an Grenzen. In einem Zwinger mit mehreren Hunden konnte ich nicht sehen, ob eines der Tiere unhörbar die Zähne fletschte. Das wurde gefährlich. Darum habe ich das KV gemacht und arbeitete danach während 25 Jahren im Service des Restaurants Blinde Kuh.
Dort waren ausschliesslich Leute mit einer Sehbehinderung tätig. In meinem Leben musste ich mich immer wieder neu ausrichten. Als Teenager wurde mir schnell klar, dass es wenig sinnvoll ist, mit meiner Schwester in die Disco zu gehen. Ich orientiere mich stark über das Gehör. Die Musik war so laut, dass mir die Orientierung schwerfiel. Zudem konnte ich nicht flirten, weil ich meinen Blick nicht klar auf eine Person fokussieren kann. Ich muss auch akzeptieren, dass ich immer mehr Hilfe benötige – vor allem von meinem Mann, der längst alle Büroarbeiten erledigt.
Ich lernte ihn vor zehn Jahren auf einer Internetplattform kennen, die auch für Leute mit Handicap geeignet ist. Mein Mann hat eine Hörbeeinträchtigung. Es gibt Momente, in denen ich ihn meinerseits unterstützen kann. So hat sich zwischen uns ein wunderbares Geben und Nehmen eingestellt. Wenn ich unterwegs bin, habe ich stets einen Blindenstock und meinen Hund Oreo dabei. Ich wollte schon mit 20 Jahren einen Hund, doch man verlangte von mir, dass ich zuerst den Umgang mit dem Blindenstock lerne.
Das hasste ich. Lieber tastete ich mich so lange wie möglich durchs Leben und nahm in Kauf, anzustossen. Meine Erfahrung zeigt: Wer mit dem weissen Stock unterwegs ist, wird stigmatisiert. Oft wurde es in einem Café schlagartig still, wenn ich mit dem Blindenstock hereinkam. Offene Wünsche habe ich wenige, denn ich lebe im Jetzt. Ich bin mit meinem Leben zufrieden. Ich hoffe nur, dass ich die zwei Prozent Sehvermögen erhalten kann. Ich sehe es als Geschenk, dass ich noch ansatzweise erkennen kann, ob es um mich herum hell oder dunkel ist.