Auf der anderen Seite der Strasse fiel mir ein junger Mann auf, als ich an der Bushaltestelle wartete. Ich musterte ihn aufmerksam, bis nach einigen Minuten mein Bus kam. Doch ich erkannte ihn nicht. Es war mein jüngster Sohn, wie er mir später erzählte.
Als meine Kinder klein waren, hatte ich nie Mühe, sie zu erkennen. Denn Kinder sind fast immer in Bewegung, und ich kann Menschen, die mir nahestehen, an der Art ihrer Bewegungen erkennen. Bei Menschen, die ich seltener sehe, achte ich auf Make-up, Frisuren, Brillen, Bärte, die Haarfarbe, die Beschaffenheit der Gesichtshaut. An all diese Dinge kann ich mich sehr leicht erinnern. Aber wehe, jemand legt die Brille weg, schneidet sich die Haare kurz oder rasiert sich den Bart ab. Dann bin ich verloren.
Ein Gesicht, das ich vor mir habe, nehme ich zwar gut wahr. Ich kann die Mimik deuten, auch die Gesichtszüge könnte ich in dem Moment problemlos beschreiben. Aber mein Gehirn speichert entweder das Gesicht nicht, oder diese Information kann beim Wiedersehen nicht abgerufen werden. Es ist, als ob alle Menschen für mich aus einer fremden Kultur stammen würden. Mitteleuropäer erkennen asiatische Gesichter auch ohne Gesichtsblindheit nur schwer. Wer sich diese Schwierigkeit ungefähr zehnfach verstärkt vorstellt, bekommt eine Idee von meinem Alltag.
Ich habe gehört, dass manche Leute mit Gesichtsblindheit einen Beruf wählen, der Kontakt mit fremden Leuten auf ein Minimum beschränkt. Für mich war das nie eine Option. Ich mag Menschen, knüpfe leicht Kontakte und schliesse schnell Freundschaften. Ich habe Ergotherapeutin gelernt und zeitweise in der Psychiatrie gearbeitet. Meine Patienten waren angemeldet, und es gab Protokolle und Rapporte, die mir die Zuordnung der Personen erleichtert haben.
Heute führe ich mit meinem Mann ein Teegeschäft in Bern. Da ist die Gesichtsblindheit natürlich hinderlich. Meine Mitarbeiterinnen sind mir eine grosse Hilfe und flüstern mir manchmal die Namen eines Kunden zu. Ausserdem habe ich eine Reihe von Strategien entwickelt: Wenn ich mit jemandem länger spreche, erkenne ich die Person oft im Lauf des Gesprächs – an der Art, wie sie spricht, oder welche Themen sie wählt. Und grundsätzlich lächle ich alles an, was sich bewegt. Man weiss ja nie, wer es ist.
Die Gesichtsblindheit belastet mich eigentlich selten. Aber als ich letzthin zwei Personen als neue Gäste begrüsste, die ich zuvor geschlagene zwei Stunden selbst bedient hatte, schockierte mich das. Am meisten macht mir zu schaffen, wenn jemand das Gefühl hat, ich sei schwer von Begriff oder arrogant, nur weil ich ihn nicht wiedererkenne. Guten Kunden erkläre ich die Krankheit daher spätestens nach dem ersten peinlichen Zwischenfall. Dies ist für mich der beste Weg, um mit der Gesichtsblindheit umzugehen.
Gesichtsblindheit: Es gibt keine Therapie
Gesichtsblinde können kein Gesicht erkennen. Das kann entweder vererbt sein oder nach einer unfallbedingten Gehirnverletzung auftreten. Gegen Prosopagnosie gibt es bislang keine Therapie. Die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen. Studien lassen vermuten, dass zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung mehr oder minder von Gesichtsblindheit betroffen sind. Bei Autismus-Störungen tritt Prosopagnosie deutlich häufiger auf.
Gesichtsblinde entwickeln früh Strategien, um Mitmenschen zu erkennen. Daher ist vielen Betroffenen ihre Gesichtsblindheit nicht bewusst.