Alissa ist ein Wunschkind. Ich gebe ihr keine Schuld an dem, was passiert ist. Meine Tochter kam vor eineinhalb Jahren spät in der Nacht per Kaiserschnitt zur Welt. Ich verliebte mich sofort in sie und machte dauernd Videos und Fotos von ihr. Als mein Lebenspartner kurz nach der Geburt neben uns einschlief, konnte ich das nicht verstehen. Für mich war an Schlaf nicht zu denken. Ich blieb sechs Tage und Nächte am Stück wach und war voller Energie. So plante ich zum Beispiel unsere ersten Ferien zu dritt.
Doch kurz nach dem Austritt aus der Klinik brach ich zusammen. Beim letzten Checkup stellten die Ärzte fest, dass Alissa Gelbsucht hatte und wir nochmals zwei Nächte bleiben sollten. Da konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen. Ausserdem schmerzte meine Kaiserschnittnarbe plötzlich unerträglich. Die Ärzte gaben mir Morphium und ein Schlafmedikament.
Doch auch in dieser Nacht fand ich keine Ruhe. Im Fernsehen lief die Amtseinführung von Joe Biden mit dem Auftritt von Lady Gaga. Plötzlich sah es für mich so aus, als wären die Sängerin und der US-Präsident bei mir im Zimmer. Später in der Nacht wandelte ich durch die Gänge und sagte den Nachtschwestern, dass mir mein Kind genommen wurde oder dass es gestorben sei. Am Spitaltelefon wählte ich alle Nummern, die ich kannte, und redete wirres Zeug.
Man verlegte mich in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik – ohne Alissa. An diese Zeit erinnere ich mich nicht. Ich bekam starke beruhigende Medikamente. Aus den Berichten und Erzählungen weiss ich, dass ich mich verfolgt fühlte. Mir war nicht mehr bewusst, dass ich ein Kind bekommen hatte. Meine Tochter war bei meinem Partner und ihrer Grossmutter. Nach vier Wochen sah ich sie das erste Mal wieder. Doch ich konnte ihr keine Liebe geben.
Nach zwei Monaten durfte ich vorübergehend nach Hause. Ich wusste nicht mehr, wie man Auto fährt oder kocht. Bankkarten- und Handypasswörter hatte ich vergessen. Wegen der Medikamente spürte ich meine Hände nicht mehr. Es war mir kaum möglich, Alissas Strampler nach dem Wickeln zuzuknöpfen. Ständig wiederholte ich in meinem Kopf: «Du musst den Schoppen machen, ihr den Schoppen geben und sie wickeln.» Doch schon für diese drei Dinge reichte meine Energie nicht.
Meine Mutter oder mein Lebenspartner mussten abwechslungsweise bei mir sein. Nach vier Wochen wurde ein Zimmer frei in einer Mutter-Kind-Klinik, und ich zog mit Alissa dorthin. Da ging es mir dann von Woche zu Woche besser. Die Medikamente wurden langsam abgesetzt, und nach sechs Wochen gingen wir nach Hause. Das fühlte sich für mich an, als käme ich frisch aus dem Wochenbett. Nur war meine Tochter da schon vier Monate alt.
Das Erlebte hat mich verändert. Es hat mich stärker und demütiger gemacht. Manchmal bin ich traurig, dass die unbeschwerte Liebe, die ich kurz nach der Geburt fühlte, unterbrochen wurde. Wegen der Medikamente konnte ich Alissa auch nur wenige Tage stillen. Meine Tochter hat eine viel engere Bindung zu meinem Mann als zu mir. Das stört mich nicht. Ich bin einfach dankbar, wieder «die Alte» zu sein und dass wir als Familie vereint sind.
Schwere Krise nach der Geburt
Eine Psychose mit Wahnvorstellungen ist die schwerste Form einer seelischen Krise, die Mütter kurz nach der Geburt treffen kann. Sie tritt deutlich seltener auf als eine Depression: Nur eine bis drei von 1000 Müttern leiden darunter. Eine solche Psychose tritt sehr plötzlich auf, innerhalb der ersten Tage oder Wochen nach einer Geburt. Die Ursachen sind nicht vollständig geklärt. Experten vermuten, dass es mit dem Umstellen der Hormone zusammenhängt.
Information: Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55, E-Mail: info@postpartale-depression.ch