Rita Tschanz litt unter Bauchschmerzen. Deshalb unterzog sich die 70-Jährige im April letzten Jahres in einer Praxis im Kanton Aargau einer Darmspiegelung. Ärzte wie der Darmspezialist Michael Fried vom Stadtspital Triemli in Zürich empfehlen die Untersuchung allen Leuten ab 50 Jahren. Dabei untersucht der Arzt den Darm mit einer kleinen Kamera. Damit lasse sich das Auftreten von Darmkrebs deutlich vermindern, sagt Fried. Auch der Magen-Darm-Spezialist Urs Marbet vom Kantonsspital Uri sagt, die Darmspiegelung sei eine «exzellente Vorsorgemethode».
Doch bei Rita Tschanz ging die Untersuchung schief: Kaum hatte die Ärztin die Sonde mit der Kamera eingeführt, durchstiess sie den Darm und gelangte in den Bauchraum. Sofort brach die Ärztin die Untersuchung ab und alarmierte die Ambulanz. Sie brachte Rita Tschanz nach Aarau in die Hirslanden-Klinik. «Ich hatte starke Schmerzen im Bauch», erinnert sich die Patientin. Noch am gleichen Abend ging es ihr im Spital immer schlechter. Die Ärzte stellten Anzeichen einer beginnenden Bauchfellentzündung fest. Notfallmässig mussten sie die Bauchhöhle öffnen. Dann nähten sie die verletzte Stelle im Darm zu. «Ich hatte grosse Angst«, berichtet Rita Tschanz. «Mir war bekannt, dass Infektionen im Bauch lebensgefährlich sind.»
Nach zehn Tagen konnte sie das Spital verlassen. Doch damit war ihr Leidensweg noch nicht zu Ende. Im letzten Januar merkte ihr Hausarzt, dass sich die Narbe im Bauch wieder geöffnet hatte. Anfang April musste sich Tschanz einer zweiten Operation unterziehen.
Operation war auch eine finanzielle Belastung
Inwischen geht es Rita Tschanz besser. Doch sie darf keine schweren Lasten tragen. Zudem spürt sie Schmerzen, wenn sie längere Zeit sitzt oder liegt. Der Notfall bei der Darmspiegelung hatte für sie auch finanzielle Folgen: Wegen des Selbstbehalts musste sie einen Betrag in vierstelliger Höhe selbst zahlen. Zwar vergütete ihr die Versicherung der Ärztin rund 1300 Franken. Doch die Kosten der zweiten Operation waren dabei nicht berücksichtigt. Für Tschanz ist klar: «Ich würde keine Darmspiegelung mehr machen.»
Was die Patientin erlebte, ist kein Einzelfall. Bei ungefähr einer von tausend Darmspiegelungen verletzen Ärzte den Darm. Das zeigte im Jahr 2013 eine Studie mit über 60000 deutschen Patienten. Auch wenn es nicht zu einer Verletzung kommt, ist die Darmspiegelung unangenehm. Vor der Untersuchung müssen die Patienten Abführmittel einnehmen. Während der Darmspiegelung verabreichen Ärzte den Patienten oft ein Schlafmittel, damit sie keine Schmerzen spüren. Hinzu kommt: Es ist nicht klar, wie gross der Nutzen der Vorsorgeuntersuchung ist. Eine Studie mit rund 1900 Patienten aus den Kantonen Uri und Glarus zeigte zwar vor sieben Jahren, dass die Darmspiegelung die Krebszahl deutlich vermindert. Zum gleichen Schluss kam auch eine US-amerikanische Studie, die das Fachblatt «New England Journal of Medicine» 2013 veröffentlicht hatte. Allerdings lebten die Teilnehmer, die regelmässig zur Darmspiegelung gingen, nicht länger: Im Durchschnitt starben sie zwar weniger oft an Darmkrebs, dafür an anderen Krebsarten oder an Herzkrankheiten.
Darmspiegelung nur bei erhöhtem Risiko
Deshalb empfehlen viele Experten die Darmspiegelung nur Leuten ab 50 Jahren mit einem erhöhten Risiko für Darmkrebs. Dazu zählen Übergewichtige, Raucher und Leute, bei denen ein Dickdarmkrebs im engen Verwandtenkreis aufgetreten ist (siehe Merkblatt unten). Urs Marbet sagt: «Je mehr Risikofaktoren vorliegen, desto eher rate ich zur Darmspiegelung.» Falls Verwandte ersten Grades an Darmkrebs erkrankt sind, solle man die Untersuchung schon ab 40 Jahren machen. Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser sagt: «Wenn der Arzt bei einer Darmspiegelung nichts findet, genügt es, die nächste in zehn Jahren zu machen.»
Allerdings gibt es auch eine viel einfachere Methode, um Darmkrebs frühzeitig zu erkennen: den Stuhltest. Bei Patienten, die keine Risikofaktoren haben und keine Darmspiegelung machen wollen, sei er eine gute Alternative, sagt der Spezialist Urs Marbet. Der Test spürt Blut im Stuhl auf, das auf einen möglichen Darmkrebs hinweist. Man sollte ihn alle zwei Jahre wiederholen. Neue Tests seien zuverlässiger als frühere, erklärt Marbet. Man könne damit die meisten Darmtumoren in einem frühen Stadium entdecken, allerdings keine Vorstufen. Falls das Labor Blut im Stuhl findet, ist danach zusätzlich eine Darmspiegelung nötig.
Die Ärztin, die bei Rita Tschanz die Darmspiegelung durchgeführt hat, ist inzwischen pensioniert. Sie sagt dem Gesundheitstipp, die folgenreiche Verletzung sei «nicht vorhersehbar» gewesen. Sie bedauere die Unannehmlichkeiten für die Patientin. Die Allianz Suisse, bei der die Ärztin versichert war, schreibt, diese habe ihre Sorgfaltspflicht nicht verletzt. «Aus Kulanz» habe die Versicherung Rita Tschanz eine Pauschalentschädigung bezahlt. Von der zweiten Operation wegen des Narbenbruchs habe man keine Kenntnis, so Allianz Suisse.
Ein Sprecher der Hirslanden-Gruppe sagt: Bei der Notoperation habe sich gezeigt, dass das Gewebe der Patientin «sehr weich und fragil» gewesen sei. Wegen der Bauchfellentzündung sei der Bauch stark verunreinigt gewesen. Es sei bekannt, dass es dadurch später zu einem Narbenbruch kommen kann.
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