Herzbeschwerden hatte Matthias Zimmermann noch nie. «Mir geht es gut», freut sich der 85-Jährige aus Birsfelden BL. «Ich brauche keine Stöcke und keinen Rollator zum Gehen.» Dennoch verschrieb ihm sein Hausarzt das Medikament Crestor. Der Arzt verordnete es, weil Zimmermanns Cholesterinwert leicht erhöht war. Allerdings nahm er die Pillen nie ein: «Ich habe die Packung Tabletten verschenkt. Denn ich sah in einem Film, dass Wissenschafter den Cholesteringrenzwert gesenkt hatten, weil sie der Pharmaindustrie entgegenkommen wollten.»
Medikamentenverkäufe stiegen um 27 Prozent
Tatsächlich senkte die Europäische Gesellschaft für Kardiologie letztes Jahr die Cholesterin-Zielwerte in ihren Richtlinien («Saldo» 16/2019). Die Folge: Ärzte verschreiben immer mehr Medikamente, die den Cholesterinspiegel senken. Im Fokus stehen die sogenannten Statine. Dazu gehören Mittel wie Crestor, Livazo oder Sortis. Die Zahl der verkauften Packungen stieg in den letzten Jahren laut dem Branchenverband Interpharma von 1,8 auf 2,3 Millionen.
Doch der Nutzen dieser Medikamente ist bescheiden – vor allem bei älteren Menschen. Bei Senioren über 75 Jahren, die nie Herzkrankheiten hatten, können diese Medikamente keinen einzigen Herzinfarkt verhindern. Das zeigt eine grosse Übersichtsstudie mit rund 180 000 Personen, die letztes Jahr in der englischen Fachzeitschrift «The Lancet» erschien. 27 von 1000 Senioren dieser Altersgruppe erlitten pro Jahr einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall – egal, ob sie ein Medikament nahmen oder nicht.
Auch bei Menschen bis 65 Jahre war der Effekt bescheiden: Von 1000 Senioren, die keine Cholesterinsenker nahmen, erlitten 12 einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Von 1000, die Medikamente nahmen, waren es auch immer noch 9. Das zeigte die Auswertung der pharmakritischen deutschen Zeitschrift «Gute Pillen, schlechte Pillen». Dazu kommt: Die Medikamente können unangenehme Nebenwirkungen verursachen, vor allem bei betagten Menschen. Das erlebte die 80-jährige Vreni Foster aus Biel BE.
Nach einer Herzoperation verordnete ein Arzt der früheren Profi-Balletttänzerin das Mittel Atorvastatin. Wenn sie es nimmt, leidet sie an schmerzhaften Muskelkrämpfen, oft auch nachts. Eine Zeitlang setzte sie das Mittel ab. «Als ich es absetzte, verschwanden die Krämpfe», sagt Vreni Foster. «Das zeigt mir, dass das Medikament die Beschwerden verursacht hat.»
Auch bei Menschen, die bereits eine Herzkrankheit hatten, vollbringen die Cholesterinsenker keine Wunder. Die Auswertung von «Gute Pillen, schlechte Pillen» zeigt: Von 1000 vorbelasteten Senioren im Alter über 75 Jahre, die keine Medikamente nehmen, haben jedes Jahr 68 einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Von 1000, die einen Cholesterinsenker schlucken, sind es immer noch 60.
Diesem geringen Nutzen steht ein Risiko für Nebenwirkungen wie Muskelbeschwerden und Diabetes entgegen. Der Herzspezialist Jochen Schuler aus Salzburg (Österreich), Mitherausgeber der Fachzeitschrift «Der Arzneimittelbrief», räumt ein, es gebe immer wieder Probleme
mit Cholesterinsenkern. Schwere Nebenwirkungen seien aber «eher selten».
Auch Flohsamen können Cholesterin senken
Oft hilft ein gesünderer Lebensstil, um das Cholesterin zu senken. Der Arzt Etzel Gysling, Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik», erklärt: «Eine Gewichtsabnahme, mehr sportliche Aktivitäten, gesündere Ernährung und ein Rauchstopp schützen mindestens ebenso gut vor Herzkrankheiten.»
Gesundheitstipp-Ärztin Martina Frei empfiehlt einen Versuch mit Flohsamen. Zwar könnten sie das Cholesterin nicht gleich gut senken wie ein Medikament. Aber man könne damit eventuell die Dosis reduzieren. Eine Studie mit über 200 Teilnehmern im «American Journal of Cardiology» zeigte vor zwei Jahren: Wenn man vor den Mahlzeiten Flohsamen einnimmt, sinkt das Cholesterin bis 10 Prozent.
Auch Rentner Matthias Zimmermann konnte seinen Cholesterinspiegel ohne Medikamente senken. «Erst letzte Woche war ich wieder mal bei meinem Hausarzt zur Kontrolle», berichtet er. «Er sagte mir, meine Cholesterinwerte seien bestens.»
Die Firma Astra Zeneca, Herstellerin der Medikamente Crestor und Crestastatin, sagt, die Nebenwirkungen seien meist geringfügig und nur vorübergehend. Die Richtlinien der Ärzte würden bei hohem Cholesterinspiegel eine Statin-Therapie empfehlen. Der Nutzen sei am grössten bei Patientinnen und Patienten mit einem hohen Risiko für Herzkrankheiten.
Tipps für ein gesundes Herz
Essen Sie wenig tierisches Fett, verwenden Sie statt Butter Oliven-, Lein- und Rapsöl.
Vermeiden Sie Übergewicht.
Treiben Sie täglich eine halbe Stunde Sport. Ideal sind Ausdauertrainings wie Joggen oder Velofahren.
Essen Sie viel Gemüse und Obst, auch in roher Form.
Hören Sie auf zu rauchen. Schon fünf Zigaretten pro Tag verdoppeln das Risiko für einen Herzinfarkt.
Unter www.agla.ch } Risikoberechnung erfahren Sie, wie gross Ihr Herzinfarkt-Risiko ist.
Gratis-Merkblatt: «Cholesterin: Medikamente im Vergleich»
Zum Herunterladen unter www.gesundheitstipp.ch oder zu bestellen bei: Gesundheitstipp, «Cholesterin», Postfach, 8024 Zürich.