Mit 15 Jahren erfuhr Simone Abegglen (Name geändert), dass sie Diabetes Typ-1 hat. Dann bildet die Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr, der Zucker häuft sich im Blut an. Doch mit den Diätvorgaben und dem Spritzen von Insulin kam die Freiburgerin nicht gut zurecht. Denn spritzt man zu viel, bekommt man Appetit, zudem füllt der Körper die Fettspeicher – beides führt zu Übergewicht.
Abegglen kontrollierte ihr Gewicht mit einer eigenwilligen Strategie: «Bevor ich Kohlenhydrate wie Teigwaren oder Brot ass, spritzte ich Insulin. Danach erbrach ich das Essen wieder.» Doch mit der Zeit spritzte sie immer weniger Insulin, weil sie ja wusste, dass sie das Essen wieder erbrach. Ein fataler Kreislauf: «Ab dem Alter von 17 Jahren lebte ich mit einem konstant viel zu hohen Blutzucker.»
Patienten schlittern oft in die Magersucht
Die heute 44-jährige Simone Abegglen ist kein Einzelfall. Ärztin Bettina Isenschmid vom Kompetenzzentrum für Essverhalten des Spitals Zofingen AG sagt: «Wir sehen das Phänomen regelmässig – vor allem bei jüngeren Frauen.» Mediziner haben für das Verhalten einen Begriff entwickelt: Insulin- Purging, das mutwillige Reduzieren von Insulin. Ernährungsberaterin Silvia Wilhelmi vom Spital Thun BE sagt: «Es gehört bei Diabetes-1 zu den meistbeobachteten Formen eines gestörten Essverhaltens.» Wilhelmi wies in einer kleinen Studie nach, dass jede dritte Patientin und jeder sechste Patient davon betroffen ist. Sie sind meist unter 35 Jahre alt. Ihre Resultate veröffentlichte Wilhelmi letztes Jahr in der «Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin». Sie decken sich mit Untersuchungen aus anderen europäischen Ländern.
Oft führt das Verhalten zu ausgeprägten Essstörungen. Patienten merken, dass sie deutlich abnehmen, wenn sie weniger Insulin spritzen – und schliddern in eine Anorexie oder Magersucht. Andere entwickeln wie Simone Abegglen eine Essbrechsucht, eine Bulimie, um ihr Gewicht im Griff zu haben. Fachleute sprechen von Diabulimie.
Die Folgen eines zu hohen Blutzuckers über lange Zeit sind fatal: Die Augengefässe gehen kaputt, die Niere nimmt Schaden. Wenn der Körper die Energie nicht mehr aus dem Zucker nehmen kann, holt er sie ausschliesslich aus den Fettreserven. Doch dabei häufen sich im Blut zu viele Ketonkörper an. Das schädigt Hirn und Herz oder führt gar zum lebensgefährlichen Koma. Psychologin Ann Goebel-Fabbri aus Boston (USA) wies bereits 2009 in einer Studie nach, dass solche Patientinnen ein dreimal höheres Risiko haben zu sterben als Diabetespatienten, die das Insulin im Griff haben.
Simone Abegglen schrammte knapp am Tod vorbei. Während des Studiums fiel sie kurz vor einer Zwischenprüfung ins Koma und erwachte auf der Intensivstation. Heute weiss sie: «Das hat mir mein Leben gerettet.» Sie kam in eine Klinik und liess sich beim Psychotherapeuten behandeln. Bis heute sind bei Abegglen keine ernsthaften Folgeschäden aufgetreten: «Ich habe sehr viel Glück gehabt.»
Wie so oft bei Essstörungen sind Patienten kaum in der Lage, ihr Verhalten zu ändern. Viele versuchen, über Jahre damit zu leben, ohne ihre Nächsten einzuweihen. Für Angehörige sind solche Störungen nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Denn ein hoher Blutzucker ist nicht offensichtlich und schwere Attacken wegen der Ketonkörper sind eher selten. Dennoch gebe es Anzeichen, sagt Ernährungsberaterin Wilhelmi: «Die Patienten haben oft ein niedriges Gewicht oder sind mit ihrem Körper unzufrieden.» Angehörige sollten bei solchen Anzeichen die Patienten ermuntern, mit ihrem Diabetes-Arzt darüber zu sprechen. Ärztin Isenschmid: «Fachleute sind heute in der Regel stärker darauf sensiblisiert.» Sie vermitteln zudem Kontakte zu Psychotherapeuten.