Priska Blättler macht jedes Jahr beim Arzt einen Bluttest. Bei einem solchen Check stellte der Arzt fest, dass ihre Schilddrüse zu wenig Hormone produziert. Er verschrieb der 79-Jährigen aus Wädenswil ZH die Hormontabletten Eltroxin-LF. Sie sollen helfen gegen Beschwerden wie Müdigkeit oder Übergewicht. Doch Priska Blättler spürt solche Beschwerden gar nicht: «Ich bin sehr fit», sagt sie. «Ich helfe oft meinen Nachbarn und führe ihre Hunde aus.» Schweizer Ärzte verschreiben Patienten immer mehr Hormonpräparate.
Das zeigen Zahlen des Branchenverbandes Interpharma: In den letzten zehn Jahren steigerten sich die Verkäufe von rund 1 Million auf rund 1,4 Millionen Packungen. Dabei wären diese Mittel oft nicht nötig. Das schreiben die Ärzte Sven Diederich und Michael Freitag in der Fachzeitschrift «Arzneiverordnung in der Praxis». Beide Ärzte gehören der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft an.
Richtlinien machen Gesunde zu Patienten
Der Grund für die erwähnte Zunahme sind die Richtlinien betreffend die Blutwerte. Die Ärzte messen im Blut den sogenannten TSHWert. Dieser zeigt, wie viele TSHHormone die Schilddrüse produziert. Diese sind wichtig für Körperfunktionen wie die Verdauung, den Blutdruck und den Herzschlag. Bei Priska Blättler mass der Arzt einen TSH-Wert von 6,33. Laut den bisherigen Richtlinien gilt schon ein TSH-Wert über 4 als verdächtig. Doch das ist laut Sven Diederich und Michael Freitag nicht mehr aktuell.
Die beiden deutschen Ärzte sagen: Leute im Alter bis zu 75 Jahren benötigen keine Hormontabletten, falls ihr TSH-Wert unter 10 liegt und sie keine Beschwerden haben. Bei Personen über 75 Jahren könne man sogar bis zu einem TSH-Wert von 20 auf die Tabletten verzichten.
Auch Arzt Etzel Gysling aus Wil SG, Herausgeber der Fachzeitschriften «Pharma-Kritik» und «Infomed-Screen», sagt, die TSH-Normwerte würden Ärzte dazu verleiten, unnötigerweise Hormonpräparate zu verschreiben – und das, obwohl der Nutzen dieser Mittel vor allem bei älteren Leuten mit abweichenden Laborwerten nicht überzeugend nachgewiesen sei. Studien zeigen: Teilnehmer, die Hormone erhielten, waren nicht weniger müde und hatten nicht weniger Verdauungsbeschwerden oder Konzentrationsschwierigkeiten als Teilnehmer, die keine Hormone erhielten.
Das ergab eine Untersuchung im «New England Journal of Medicine», bei der über 700 Frauen und Männer im Alter von durchschnittlich 74 Jahren beteiligt waren. Zum fehlenden Nutzen kommen teilweise schwere Nebenwirkungen. Dazu gehören Schweissausbrüche, Zittern und Nervosität, aber auch Osteoporose und Herzrhythmusstörungen.
Bei chronischen Entzündungen sind Hormone sinnvoll
Etzel Gysling empfiehlt die Behandlung mit Hormonpräparaten nur Leuten, die an Krankheiten wie einer angeborenen Fehlfunktion der Schilddrüse oder der Hashimoto-Thyreoiditis leiden. Bei dieser Krankheit entzündet sich die Schilddrüse chronisch und produziert deshalb zu wenig Hormone. Die Firma Alfasigma verkauft das Hormonpräparat Eltroxin-LF. Sie sagt, ihr Mittel sei «ausgezeichnet verträglich», denn es entspreche dem natürlichen Hormon im Körper.
Nebenwirkungen könne es geben, wenn Ärzte eine zu hohe Dosis verschreiben würden. Die Firma Merck schreibt, das NutzenRisiko-Profil ihres Medikaments Euthyrox sei positiv, wenn man es für die zugelassenen Einsatzgebiete verwende.