Ein Dienstagabend im Oktober. Im ersten Stock eines Hauses an der Cramerstrasse in Zürich sitzen vier Männer und zwei Frauen um einen langen Tisch. Sie nehmen an einem Meeting der Organisation Anonyme Alkoholiker teil. Mit dabei sind zwei Journalisten des Gesundheitstipp. Sie geben sich als Betroffene mit einem Alkoholproblem aus.
Jeder Teilnehmer des Meetings stellt sich mit dem gleichen Satz vor: «Ich heisse Stefan. Ich bin Alkoholiker.» Oder: «Ich heisse Rita. Ich bin Alkoholikerin.» Ein Buch mit blauem Einband zirkuliert. Jeder Teilnehmer liest laut einige Zeilen daraus vor. «Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind», steht in den «zwölf Schritten», dem Programm der Anonymen Alkoholiker. Nur «eine Macht, grösser als wir selbst», könne den Süchtigen helfen. Diese müssten ihr Leben «der Sorge Gottes» anvertrauen.
Ein Mann erzählt, er sei seit 40 Tagen «trocken». Die anderen Teilnehmer applaudieren. Reihum berichten sie von ihren Erfahrungen mit dem Alkohol. «Was hier gesagt wird, bleibt hier», steht auf einem Kartonschild an der Wand.
Zurzeit gibt es in der Schweiz insgesamt 110 Gruppen der Anonymen Alkoholiker. Bei Fachleuten stossen deren Methoden auf Kritik. So wirft die Suchtexpertin Henriette Walter von der Medizinischen Universität Wien den Anonymen Alkoholikern vor, sie würden den Teilnehmern an solchen Meetings Angst vor dem Alkohol machen. Die Methode sei stark religiös geprägt und veraltet. Die «zwölf Schritte» würden den Teilnehmern das Gefühl vermitteln, sie seien schuld an ihrer Sucht und müssten dafür büssen. «Das sind Begriffe von vorgestern», sagt Walter.
Der US-amerikanische Psychiater Lance Dodes kritisiert, das Programm der «zwölf Schritte» sei unwissenschaftlich und könne Suchtkranken sogar schaden. Das blaue Buch stelle die Süchtigen als schlechte, sündhafte Menschen dar. Damit erweise es ihnen einen Bärendienst. Dodes hat Studien zu den Anonymen Alkoholikern ausgewertet. Dabei hat er eine Erfolgsquote von nur 5 bis 10 Prozent ermittelt. Viele Teilnehmer würden aussteigen.
Zwar anerkennt Lance Dodes, die Methode der Anonymen Alkoholiker könne für Leute, welche die Vorstellung einer «höheren Macht» akzeptieren, hilfreich sein. Das gegenseitige Unterstützen und die Kameradschaft zählten zu den Stärken der Organisation. Allerdings zeigt eine Studie mit 150 englischen Alkoholikern: Mehr als die Hälfte der Teilnehmer erklärten, sie könnten mit der «höheren Macht» nichts anfangen. Die Studie erschien in der Fachzeitschrift «Journal of Studies on Alcohol».
«Betroffene lernen, sich besser zu fühlen»
Spezialisierte Ärzte behandeln Alkoholsüchtige heute in erster Linie mit Psychotherapie. Denn die Ärzte betrachten die Sucht nicht als isolierte Krankheit, sondern als Folge der Lebensumstände. Expertin Henriette Walter: «Die Betroffenen sollen sich nicht schuldig fühlen, sondern lernen, sich besser zu fühlen.» Medikamente können die Heilung unterstützen. Margit Proescholdt, Oberärztin an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, behandelt Suchtkranke auch mit weiteren Therapien wie Achtsamkeitsmeditation, Akupunktur und Sport.
«Nicht die einzige Lösung»
Zur Kritik der Fachleute sagen die Anonymen Alkoholiker, der Begriff «Gott» in den «zwölf Schritten» beziehe sich nicht auf eine bestimmte Religion. Alle, die mit dem Trinken aufhören möchten, seien willkommen. Es könne auf Aussenstehende befremdlich wirken, dass sich die Teilnehmer als Alkoholiker bezeichnen.
Die meisten Betroffenen würden sich aber nicht minderwertig fühlen, sondern als gestärkte Personen, die es geschafft hätten, ihre Sucht in den Griff zu bekommen. Die Rückfallquote sei bei allen Therapieformen hoch. Den Anonymen Alkoholikern sei bewusst, dass ihr Programm nicht die einzige Lösung sei.
Tipps: So haben Sie den Alkohol im Griff
- Frauen sollten pro Tag nicht mehr als 12 Gramm Alkohol trinken. Das entspricht etwa 1 Deziliter Wein. Bei Männern sind es maximal 24 Gramm. Das entspricht 6 Deziliter Bier.
- Legen Sie pro Woche mindestens zwei alkoholfreie Tage ein.
- Trinken Sie nicht vor 15 Uhr und nicht nach 21 Uhr.
- Verzichten Sie auf Hochprozentiges wie Whisky.
- Führen Sie ein Trinktagebuch. Eine Vorlage gibts auf Kontrolliertes-trinken.de.
Nützliche Internetlinks
Umfrage: Wie viel Alkohol trinken Sie?
Guido Rossetti, 28, Meiringen BE
«Normalerweise trinke ich jeden Tag ein Glas Rotwein, auf Partys auch mal mehr – dann aber eher Härteren Alkohol wie zum Beispiel Wodka. Wenn ich Drogen nehme, trinke ich noch mehr. Das kommt aber nur etwa zweimal im Jahr vor. Ich kenne aber meine Grenze, denn ich mache das seit zehn Jahren so. Im Moment bin ich aber ruhig unterwegs.»
Marlis Brack, 70, Rafz ZH
«Ich trinke nur wenig. Mal gibts ein Glas zum Anstossen, wenn es etwas zu feiern gibt oder bei einer Einladung zu einem feinen Essen. Aber mehr als das kann ich nicht trinken. Ich sitze dann vor dem vollen Glas und rühre es gar nicht an. Das Gefühl, betrunken zu sein, kenne ich nicht. Das hat sicher auch mit der Erziehung zu tun. Meine Eltern tranken fast keinen Alkohol.»
Roland Hauterer, 61, Niederweningen ZH
«Ich trinke am Wochenende mal ein Glas Wein. Ganz selten trinke ich im Sommer ein Bier zum Grillieren, alle paar Monate einen Schnaps. Als ich jünger war, habe ich auch mal über die Stränge geschlagen. Aber solange das nicht regelmässig passiert, sehe ich darin kein Problem.»
Jakob Reithebuch, 56, Jona SG
«Zu einem feinen Znacht trinke ich gern mal ein bis zwei Gläser Wein, vielleicht zweimal pro Woche. Auswärts gibt es gelegentlich ein bis zwei Bier. Ganz selten trinke ich einen Grappa. Man sollte Alkohol geniessen und nicht unter Stress oder aus Gewohnheit trinken.»