Schon lange schlafe ich bei unserem neunjährigen Sohn im Kinderzimmer. Ich muss auf ihn aufpassen. Denn wenn Botond mitten in der Nacht eine Idee hat, setzt er sie auch um. Einmal erwachte ich morgens um 4 Uhr durch ein Quietschen und habe ihn draussen auf dem Trampolin erwischt.
Das klingt lustig, ist aber schlimm für uns. Denn Botond lebt mit Autismus. Das zeigt sich auch daran, dass er keine Gefahr kennt. Er würde, ohne zu schauen, über die Strasse zu seiner Lieblingsbäckerei rennen. Er liebt Wasser und würde in jeden noch so tosenden Fluss steigen. Würde er sich verlaufen, könnte er nicht einmal seinen Namen sagen. Deshalb darf ich ihn nie aus den Augen lassen.
Unser Leben ist wie eine Fahrt auf der Achterbahn. Alles dreht sich um Botond. Wir müssen ständig auf alles vorbereitet sein. Die Stimmung kippt von einer Sekunde auf die andere. Ein Mückenstich reicht, um Botonds Verhalten komplett zu verändern. Dann schreit er plötzlich los, schlägt sich mit den Fäusten auf den Kopf oder beisst sich in die Hand. Wenn es ganz schlimm ist, beisst er auch mich oder kratzt
mir meine Arme blutig. Die Leute starren uns in solchen Situationen entweder an oder sie schauen weg.
Zu Hause müssen wir alles abschliessen. Auch unsere Küchentür ist verschlossen, weil Botond extrem gern isst und nicht merkt, wann es genug ist. Einmal hat er sich das Glas mit dem Kristallzucker geschnappt und einfach alles runtergeschluckt.
Das Schwierigste ist, dass Botond nicht sprechen kann. Zwar kennt er einige Wörter in Gebärdensprache, und er kann uns auch zeigen, wenn er etwas möchte. Aber wenn es ihm nicht gut geht, kann er sich nicht ausdrücken. Wenn er schreit, wissen wir nicht, ob er Schmerzen hat oder einfach unzufrieden ist.
Wir können nie etwas spontan unternehmen. Alles hängt davon ab, ob Botond motiviert ist. Wenn wir einen Ausflug machen, muss ich ihm vorher mit Bildern zeigen, was auf ihn zukommt. Neue Orte kundschafte ich vorher aus, damit ich weiss, was auf uns zukommt. Ich war mit Botond schon fünf Mal auf dem Pilatus. Er liebt es, mit der Seilbahn zu fahren. Aber dass er dafür anstehen muss, versteht er nicht. Anfänglich hat er in der Schlange laut geschrien. Ich musste ihn dann jeweils ganz fest umarmen, damit er nicht wegrannte. Botond reagiert auch empfindlich auf Geräusche. Darum trägt er ständig Kopfhörer.
Mein Mann ist meine grosse Stütze. Wir sind seit mehr als 20 Jahren ein Paar und ein gutes Team. Ohne den Zusammenhalt in unserer Familie könnte ich das alles nicht schaffen. Auch unser älterer Sohn trägt unsere Situation mit.
Wir feiern die kleinen Erfolge. Wenn ich Botond sage, er solle mir seine Schuhe bringen, und er bringt sie tatsächlich, dann ist das toll. Oder wenn er den Kartoffelstock mit dem Löffel isst und nicht mit der Hand. Über die Zukunft denke ich nicht nach. Botond besucht jetzt eine heilpädagogische Schule. Wenn alles gut läuft, darf er in der Schule bleiben, bis er 18 ist. Zu wissen, dass er dort akzeptiert ist, beruhigt mich.
Autismus: Leben in einer eigenen Welt
Leute mit Autismus sehen, hören und fühlen die Welt anders als ihre Mitmenschen. Sie können sich nicht in andere Menschen einfühlen und kaum mit ihnen kommunizieren. Wichtig sind für sie Rituale und immer gleiche Abläufe. Neuere Studien zeigen: Etwa 1 Prozent der Schweizer Bevölkerung ist betroffen – allerdings unterschiedlich stark.
Die Ursachen für Autismus sind unklar. Genetische Einflüsse und biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und Autismus auslösen.
Infos und Beratung: Autismus.ch