Kürzlich fragte mich ein Bekannter, ob ich lieber Wein oder Bier trinke. Ich schaffte es nicht, sofort zu antworten. Zwar spreche ich offen über meine Sucht. Trotzdem hatte ich Hemmungen, mich gleich als trockene Alkoholikerin zu outen. Ich weiss ja nicht, wie das Gegenüber reagiert.
Seit eineinhalb Jahren trinke ich keinen Alkohol mehr. Zuvor war ich über Jahrzehnte süchtig. Eine Flasche Wein pro Tag war normal für mich, auch während meiner aktiven Zeit als Leiterin in der Pflege und der Betreuung. Wenn ich ehemalige Kollegen heute darauf anspreche, sagen sie, sie hätten das schon vermutet. Doch nie hat mir jemand etwas gesagt. Ich funktionierte ja, obwohl ich trank.
Nach der Pensionierung wurde es schlimmer. Zur Flasche Wein kam immer häufiger noch Bier und im letzten Jahr vor dem Entzug noch eine Flasche Wodka am Tag. Schon am Morgen um 8 Uhr trank ich eine grosse Tasse Wodka mit Kaffee. Die habe ich dann möglichst schnell hinuntergekippt, um auf meinen Pegel zu kommen. Um 11 Uhr war ich schon besoffen. Irgendwann schlief ich ein, und wenn ich aufwachte, brauchte ich sofort Nachschub.
Als ich in eine Entzugsklinik kam, fragten mich die Therapeuten, mit welchem Tier ich den Alkohol vergleichen würde. Sofort hatte ich das Bild eines gefährlichen Dinosauriers im Kopf – ein übermächtiges Tier, neben dem ich klitzeklein bin. Im Lauf der Therapie verwandelte sich der riesige Dino in einen Freund. Ich habe einen Plüschdinosaurier im Bett, und auch im Auto fährt einer mit. So halte ich den Dino klein und niedlich. Er soll nie mehr Macht über mich bekommen.
Heute schaue ich mich gern im Spiegel an. Ich habe 30 Kilo abgenommen. Fast jeden Tag gehe ich meine 40 Bahnen schwimmen. Ich schminke mich, gehe ins Theater und treffe mich mit meinem besten Freund. Wenn wir im Ausgang sind, trinkt er ebenfalls nichts. Das finde ich schön und wertschätzend. Ich will auch wieder Männer kennenlernen. Noch vor einem halben Jahr war das für mich unvorstellbar.
In mein altes Leben will ich nie mehr zurück. Als Alkoholikerin vernachlässigte ich nicht nur mich selber, sondern auch meine Wohnung. Ich lebte wie ein Messie im Dreck und bestellte Alkohol übers Internet vor die Haustür. Nach dem Entzug entsorgte ich Dutzende von 110-Liter-Abfallsäcken, die Flaschen und Alkoholverpackungen enthielten.
Ich weiss noch nicht, wie und wo ich Weihnachten verbringen werde. Vielleicht bleibe ich sogar allein zu Hause. Das finde ich gemütlich. Eine gesellige Runde, bei der getrunken wird, wäre mir zu riskant.
Ich bin noch nicht lange trocken, deshalb verzichte ich auch auf Bier ohne Alkohol. Ich habe Angst, dass allein der Geschmack in mir etwas auslöst. Käsefondue mache ich mit Apfelmost statt mit Weisswein. Und im Restaurant frage ich immer nach, ob die Saucen Alkohol enthalten. Einen Rückfall könnte ich mir nicht verzeihen.
Alkohol: Süchtige verlieren die Kontrolle
In der Schweiz sind laut der Stiftung Sucht Schweiz rund 250'000 Personen von Alkohol abhängig. Der übermässige Konsum von Alkohol fördert mehrere Krebsarten und Krankheiten des Verdauungstraktes und des Nervensystems.
Ein Entzug dauert etwa zwei Wochen. Entzugserscheinungen, zum Beispiel Zittern oder Kopfweh, treten nach 24 Stunden auf. In schweren Fällen kann es zu lebensbedrohlichen Krämpfen oder gar zu einem Delir kommen. Betroffenen können Medikamente, eine Psychotherapie oder ein Klinikaufenthalt helfen.
Informationen und Beratung: Sucht Schweiz, Tel. 021 321 29 11, Suchtschweiz.ch