Samuel Rohner aus Solothurn (Name geändert) verspürte vor vier Jahren plötzlich starke Bauchschmerzen. Kurz zuvor war er Vater geworden, er liebte seine Arbeit, machte viel Sport, war glücklich. Doch dann stellte sein Hausarzt bei ihm eine Gallenblasenentzündung fest und verschrieb ihm das Antibiotikum Ciprofloxacin. Eine Woche lang sollte Rohner das Medikament einnehmen. Seither ist sein Leben ein anderes.
Antibiotikum sorgt für starke Nebenwirkungen
«Es begann mit einem Kribbeln in den Händen und den Füssen», erinnert sich der 40-Jährige. Fast gleichzeitig kamen die Angstattacken, jede Nacht hatte er Albträume. «So etwas kannte ich vorher überhaupt nicht», sagt er. Nach einem Blick in die Packungsbeilage glaubte Rohner, dass das etwas mit dem Antibiotikum zu tun haben könnte. Am fünften Tag setzte er das Mittel auf eigene Faust ab.
Doch Rohner ging es mit jedem Tag schlechter. Wenn er sich bewegte, knackten seine Gelenke. Seine Sehnen und Nerven schmerzten so stark, dass jeder Schritt zur Qual wurde. An Sport war nicht mehr zu denken: «Ich war froh, wenn ich ohne Schmerzen ein paar Schritte gehen konnte», sagt er. Er schaffte es nicht mehr, seine Kinder hochzuheben. Doch erst als er für eine Zweitmeinung zu einem anderen Arzt ging, erhielt er eine Erklärung: Samuel Rohner litt an den Nebenwirkungen von Ciprofloxacin. Dieses Antibiotikum gehört zu der Gruppe der Chinolone.
«Ein Gefühl, als hätte mich jemand vergiftet»
Rohner ist nicht der Einzige: Im Internet finden sich zahlreiche Berichte von Betroffenen weltweit. Auch Peter Bürgler (Name geändert) aus Zürich ist einer von ihnen. Gegen eine vermeintliche Prostataentzündung verschrieb ihm ein Arzt ein Antibiotikum mit dem Wirkstoff Levofloxacin. Ab dem vierten Tag der Antibiotikakur begannen seine Muskeln zu zucken und seine Sehnen schmerzten stark. «Es fühlte sich an, als hätte mich jemand vergiftet», sagt er.
Das Medikament schädigte Bürglers Sehnen so stark, dass er die Hoffnung auf ein schmerzfreies Leben aufgab. Früher ging er auf Skitouren und nahm an Laufwettkämpfen teil – heute, drei Jahre später, kann er höchstens noch 500 Meter am Stück gehen.
Die Antibiotika der Gruppe Chinolone wirken unter anderem gegen Bakterien, die Blasen- oder Lungenentzündungen verursachen (siehe Tabelle im PDF). Doch Wirkstoffe wie Ciprofloxacin, Levofloxacin oder Moxifloxacin stehen seit längerem in der Kritik. Das Problem: Sie können Sehnen und Nerven schädigen, Muskel- und Gelenkschmerzen oder Angstzustände verursachen. Und manchmal schädigen sie Organe. Das belegen Studien: Niederländische Forscher kamen vor ein paar Jahren zum Schluss, dass bis zu 6 Prozent der Achillessehnenrisse bei über 60-Jährigen in Grossbritannien durch Chinolone verursacht sind. Und eine kanadische Studie wies nach, dass durch diese Antibiotika auch die Nieren versagen können.
«Nebenwirkungen wurden unterschätzt»
Seit einiger Zeit mehren sich die Berichte, dass gewisse Beschwerden auch dann bestehen bleiben, wenn die Patienten die Mittel wieder absetzten. Einige Betroffene sind auf einen Rollstuhl angewiesen. Etzel Gysling, Arzt und Herausgeber der Zeitschrift «Pharmakritik», sagt: «Fachleute haben die Nebenwirkungen früher unterschätzt.»
Im letzten Jahr verpflichtete die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA die Hersteller dazu, einen deutlichen Warnhinweis auf der Packungsbeilage zu drucken. Ärzte forderte die Behörde dazu auf, die Medikamente nur noch im Notfall zu verordnen.
Auch in der Schweiz stehen Chinolone auf dem Prüfstand. Die Arzneimittelbehörde Swissmedic sagt gegenüber dem Gesundheitstipp: «Hersteller werden in der Packungsbeilage künftig vor dauerhaften Schäden warnen müssen.» Doch Schweizer Ärzte verschreiben Chinolone nach wie vor sehr häufig – im letzten Jahr waren es über 700 000 Packungen. Das zeigen Zahlen von Interpharma, dem Verband der Pharmaunternehmen. Andreas Widmer, Professor für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am Unispital Basel, sagt: «Gerade in der Urologie, etwa nach Operationen oder bei Prostatabeschwerden, setzen Ärzte zu viele Chinolone über zu lange Zeit ein.»
Antibiotika wären nicht immer nötig
Oft wären diese Antibiotika nicht einmal nötig. Etzel Gysling: «Für die meisten Infekte können verschiedene Antibiotika eingesetzt werden. Chinolone sollten nur bei sehr schweren Krankheiten zur Anwendung kommen.»
Bei Krankheiten wie Bronchitis oder Schnupfen sollte man keine Antibiotika einnehmen. Denn sie sind oft durch Viren verursacht – und gegen diese wirken Antibiotika nicht. Auch bei einigen Infektionen durch Bakterien sind Antibiotika nicht immer angebracht. Wolfgang Becker-Brüser, Arzt und Chefredaktor der deutschen Zeitschrift «Arznei-Telegramm», sagt: «Wenn eine Frau nur leichte Symptome einer Blasenentzündung hat, kann es ausreichen, wenn sie in den ersten 48 Stunden viel trinkt und ein Antibiotikum erst dann einnimmt, wenn die Beschwerden innerhalb dieser Zeit nicht bessern.»
Samuel Rohner leidet noch heute unter starken Nerven- und Gelenkschmerzen. Doch was ihn noch mehr schmerzt: «Ich werde meinen Kindern nie das Skifahren oder Fussballspielen beibringen können. Mein Leben, wie ich es kannte, gibt es nicht mehr.»
Sanofi, Herstellerin von Antibiotika mit dem Wirkstoff Levofloxacin, sagt: Wie bei allen Arzneimitteln müssten bei den Chinolonen Nutzen und Risiko gründlich abgewogen werden.