Seit kurzem ist in der Schweiz ein dritter Impfstoff gegen das Coronavirus auf dem Markt. Die Impfung der Firma Janssen-Cilag, einer Tochterfirma von Johnson & Johnson, funktioniert auf neuartige Weise: Sie enthält ein gentechnisch verändertes Virus mit DNA des Coronavirus. Das Virus bringt die DNA bis in den menschlichen Zellkern. So soll die Zelle das Hülleiweiss produzieren, worauf das Immunsystem reagiert (Gesundheitstipp 10/2021).
Was erstaunt: Mit dieser Methode behandelte man bis jetzt nur Schwerstkranke – nicht Millionen Gesunde. Denn es ist eine Form von Gentherapie. Beispiel: Zolgensma gegen Spinale Muskelatrophie. Bei diesem angeborenen Gendefekt sterben bei betroffenen Babys Nerven ab, welche die Muskeln kontrollieren. Im schlimmsten Fall sterben die Kinder. Die Infusion Zolgensma schleust ein Virus mit einem gesunden Gen in die Zellkerne ein.
Zolgensma ist kein Einzelfall: In den letzten Jahren gab das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic sechs weiteren Gentherapien grünes Licht (siehe Tabelle im PDF). Die meisten sollen bei Krebs helfen – bei Patienten, denen keine andere Therapie genützt hat. Bei gewissen Krebsarten verwendet man eine andere Methode: Der Arzt entnimmt dem Patienten Blut. Im Labor trennt man die weissen Blutkörperchen ab und verändert sie gentechnisch. Mit einer Infusion gibt man sie zurück ins Blut des Patienten. Und damit nicht genug: Bereits suchen Forscher nach Gentherapien gegen Volkskrankheiten wie Diabetes oder erhöhtes Cholesterin. So testen Wissenschafter der amerikanischen Universität Wisconsin an Mäusen, ob gentechnisch veränderte Zellen in der Lage sind, Insulin zu produzieren.
Viren können ausser Kontrolle geraten
Die Technologie ist umstritten. So ist es möglich, dass die verwendeten Viren ausser Kontrolle geraten. Biologin Pascale Steck vom Basler Verein Biorespect sagt: «Fatale Immunreaktionen oder Tumoren sind die Folge.» Auch der Molekulargenetiker Walter Doerfler von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen (D) spricht von unerwarteten und wenig verstandenen Reaktionen. Das Therapie-Gen sowie Gene der Viren können in das Erbgut gelangen. «Die Folgen sind noch wenig untersucht.»
Die Zeitschrift «Nature Biotechnology» berichtete, die Viren würden sich gerne in Gene integrieren, die bei Krebs eine Rolle spielten. Probleme gab es bei der Firma Astellas Gene Therapies. Sie entwickelte eine Gentherapie gegen Myotubuläre Myopathie. Das ist eine angeborene Muskelschwäche. Betroffene Kinder können kaum selbständig saugen, schlucken und atmen. Zuerst war die Therapie erfolgreich. Aber dann funktionierte die Leber der behandelten Kinder nicht mehr gut. Einige starben sogar. Das letzte Opfer starb im September.
Dazu kommen weitere schwere Nebenwirkungen. Etwa bei Zolgensma: Novartis warnte im März vor lebensbedrohlichen Komplikationen. Fünf Kinder erkrankten schwer. Eines starb, weil es plötzlich zu wenig Blutplättchen hatte.
Zudem ist der Nutzen einiger dieser Therapien unklar. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen schrieb zu Zolgensma: Die Infusion nützt nicht besser als die bewährten Mittel Evrysdi und Spinraza. Langfristige Erfahrungen fehlen.
Auffallend: Obwohl Gentherapien ins Erbgut eingreifen können, fehlt eine gesellschaftliche Debatte. Erste Versuche mit Gentherapien gab es in den 1990er-Jahren. Die Erwartungen waren gross. Dann starb der junge Amerikaner Jesse Gelsinger wegen einer solchen Behandlung. Der tragische Fall führte zum Abbruch sämtlicher Versuche mit Gentherapien. Pascale Steck von Biorespect: «Nun kommen die Gentherapien schleichend durch die Hintertür.» Sie würden stillschweigend geduldet – vermutlich, «weil es stets um die Therapie schwerer Krankheiten und die Hoffnung von Schwerkranken geht». Die Zürcher Medizin-Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle sagt: «Bei Patienten mit schweren Krankheiten kann man solche Risiken eher in Kauf nehmen.» Man müsse sie aber darüber informieren.
Pikant: Viele Leute reagieren heikel auf gentechnisch veränderte Pflanzen. Läden verzichten deswegen auf solche Produkte. «Aber ein gentechnisch verändertes Virus in einem Impfstoff lassen sie sich einspritzen», sagt Baumann-Hölzle.
Finanzielle Gefahr für Gesundheitssysteme
Gentherapien sind auch extrem teuer. Eine Behandlung mit Zolgensma kostet in Deutschland rund zwei Millionen Franken. Wie viel die Infusion in der Schweiz kostet, wollen weder Novartis noch der Bund sagen. Kinderarzt Wolfgang Rascher von der Kinder- und Jugendklinik Erlangen kritisiert: «Die hohen Kosten sind unverständlich.» Viele Vorarbeiten seien an Universitäten gemacht worden. Die deutsche Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm» schreibt, die Therapien seien «eine Zeitbombe für die Finanzierung der Gesundheitssysteme».
Vielversprechender sind neuartige Methoden der Gentherapie mit sogenannter mRNA. Das ist ein Botenstoff, der einen Bauplan für Eiweisse liefert, aber nicht bis in den Zellkern vordringt. Die Covid-19-Impfungen von Moderna und Pfizer/Biontech funktionieren so: Sie enthalten den Bauplan für ein Hülleiweiss des Coronavirus. Nach der Impfung stellen Körperzellen das Eiweiss her. Es zeigte sich, dass diese Impfungen viel effizienter sind als jene von Johnson & Johnson (Gesundheitstipp 10/21). Die britische Fachzeitschrift «New Scientist» bezeichnet mRNA-Therapien in der letzten Ausgabe als «medizinische Revolution». Gegenwärtig würden etwa sechs Impfungen gegen Krebs getestet. Medikamente sind aber noch nicht auf dem Markt.
Zolgensma-Herstellerin Novartis schreibt dem Gesundheitstipp, die Therapie verändere das Erbgut der Patienten nicht. Auch gebe es keine Anzeichen für erhöhtes Krebsrisiko. Das Mittel sei verglichen mit den Kosten der bewährten Medikamente wirtschaftlich und könne sogar zu tieferen Kosten der Gesundheitssysteme führen. Abecma-Herstellerin Bristol Myers Squibb sagt, das Herstellen des Krebsmittels sei komplex. Beim Preis müsse man den Nutzen berücksichtigen, den das Mittel der Gesellschaft bringe.