Für die damalige Bundesrätin Ruth Dreifuss war klar: Aufgabe der nationalen Ethikkommission für Humanmedizin ist es, die Gefahren der Medizin aufzuzeigen: «Sie muss uns warnen und bremsen.» Das sagte sie 2001 den Medien, als der Bundesrat die Kommission ins Leben rief.
Heute zeigt sich: Die Kommission bremst nicht, sie prescht vor.
Im Februar hat die Ethikkommission ihren Bericht zum neuen Fortpflanzungsgesetz publiziert. Dieses soll regeln, wie weit die Ärzte bei der künstlichen Befruchtung gehen dürfen. Bei der Lektüre des Berichts staunt man: Gemäss der Kommission sollen Ärzte in Zukunft Methoden und Techniken anwenden dürfen, die heute verboten sind und selbst dem Bundesrat und dem Ständerat zu weit gehen.
Beispiel: Gentests an Embryonen
Unfruchtbare Paare können bereits heute Kinder im Reagenzglas zeugen. Dafür entnehmen Ärzte einer Frau Eizellen. Im Reagenzglas befruchten sie diese mit dem Sperma des Mannes. Den Embryo setzen die Ärzte dann der Frau in die Gebärmutter ein. Nach dem Willen des Bundesrats und des Ständerats sollen Ärzte an diesen Embryonen im Reagenzglas Gentests durchführen können – aber nur bei Paaren, die Erbkrankheiten haben und diese dem Kind weitervererben könnten. Das war bis anhin verboten.
Die Ethikkommission geht weiter: Sie empfiehlt, dass Ärzte auch bei Embryonen von gesunden Paaren einen Gentest machen dürfen – also bei allen Embryonen. So könnten diese Eltern verhindern, dass sie ein Kind mit einer Behinderung – wie zum Beispiel dem Down-Syndrom – kriegen. Die Ethikkommission argumentiert, Frauen würden sonst einfach einen Gentest machen, nachdem der Embryo eingepflanzt wurde – und ihn wieder abtreiben, wenn er behindert sei. Denn bei Schwangeren sind Gentests bereits heute erlaubt.
Kritiker befürchten, dass mit dieser Neuerung unpassende Embryonen im Abfall oder in der Forschung landen. Die Zürcher Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle war selbst Mitglied der Ethikkommissio, hat den Bericht aber abgelehnt. Sie sagt: «Embryonen werden behandelt wie Verbrauchsmaterial.» Sie befürchtet zudem: «Bald werden Embryonen nicht mehr nur nach der Gesundheit, sondern auch nach Geschlecht oder Augenfarbe ausgewählt.» Und Heidi Lauper, Co-Geschäftsführerin des Behindertenverbands Insieme, kritisiert, die Ethikkommission signalisiere mit ihrer Haltung, dass Menschen mit Behinderung weniger wert seien und nicht auf die Welt gehörten. Lauper: «Sie stösst Eltern mit einem behinderten Kind vor den Kopf.» Diese müssten sich künftig rechtfertigen, dass sie das Kind behalten hätten.
Beispiel: Babys als Zellspender
Die Ethikkommission hat auch keine Bedenken, sogenannte «Retterbabys» zu erlauben. Unter diesem beschönigenden Begriff versteht man im Reagenzglas gezeugte Embryonen, die genetisch zu einem kranken Kind passen und diesem so als Stammzellenspender dienen können. Beispiel: Das Geschwister hat Krebs und braucht eine Zelltransplantation. Ärzte könnten nun im Reagenzglas Embryonen züchten, bis sie einen gefunden haben, der genetisch zum kranken Geschwister passt. Ist das Baby auf der Welt, entnehmen die Ärzte ihm die benötigten Zellen fürs kranke Geschwister. Je nach Operation muss das Neugeborene dafür mit Narkose unters Operationsmesser.
Die Ethikkommission argumentiert, Eltern würden so davor bewahrt, ihr krankes älteres Kind zu verlieren. Selbst dem Ständerat geht das zu weit. Auch Theres Blöchlinger, Frauenärztin und Leiterin des Frauenambulatoriums Zürich, kritisiert: «Es widerspricht der Menschenwürde, wenn ein Kind auf die Welt kommen muss, um einen Zweck zu erfüllen.» Das könne zudem beim Retterbaby zu grossen psychischen Problemen führen.
Beispiel: Eizellspende
Auch hier rät die Ethikkommission zu einer Zulassung. Dabei spendet eine Frau ihre Eizellen einer anderen Frau, die keine fruchtbaren Eizellen hat. Begründung: Es sei ungerecht, dass die Samenspende des Mannes erlaubt, die Eizellspende der Frau hingegen verboten sei. Frauenärztin Blöchlinger findet diesen Vergleich verharmlosend: «Die Spenderin einer Eizelle muss unter Narkose auf den Operationstisch.» Studien zeigen zudem, dass der Eingriff happige Nebenwirkungen wie Blutgerinnsel oder Unfruchtbarkeit haben kann (siehe Gesundheitstipp 2/14).
Blöchlingers Fazit: «Die Ethikkommission lässt sich je länger, je mehr vom medizinisch Machbaren leiten, statt die Gefahren anzusprechen.» Ähnlich sieht das die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle: «Wir haben als Kommission unsere Aufgabe nicht erfüllt, auch die Gefahren zu thematisieren.»
Die Philosophin Carola Meier-Seethaler war selber Mitglied der Ethikkommission. Doch 2005 trat sie aus – unter Protest. Sie sagt: «Die Kommission unterwirft sich dem Diktat von Forschung und Industrie.»
Unbestritten ist: Fortpflanzungsmediziner haben ein Interesse daran, dass die Schweiz Gentests, Retterbabys und Eizellspenden zulässt. Durch die Verbote entgeht ihnen ein Geschäft – viele Patientinnen weichen ins Ausland aus, zum Beispiel nach Spanien, wo laschere Gesetze herrschen. Irritierend auch hier: Die Ethikkommission schlägt in die gleiche Kerbe. Sie schreibt, das Leid unfruchtbarer Paare oder Eltern mit kranken und behinderten Kindern sei gross. Deshalb gingen sie ins Ausland.
Meier-Seethaler sagt dazu: «Die Kommission redet den Ärzten nach dem Mund.» Ein Grund sei die Zusammensetzung der Kommission: «Darin dominieren Mitglieder, die der Forschung unkritisch gegenüberstehen.» Theres Blöchlinger findet, es habe zu viele Fachpersonen in der Kommission. «Diese sind weit weg von den alltäglichen Sorgen von Frauen.»
Gewählt wird die nationale Ethikkommission für Humanmedizin vom Bundesrat. Als das Gremium das neue Fortpflanzungsgesetz behandelte, bestand es aus 14 Personen. Nur 5 von ihnen waren Ethiker. Der Rest waren Ärzte, Juristen, ein Journalist und eine Pflegewissenschafterin.
Der Gesundheitstipp befragte die Mitglieder einzeln, was sie von Gentests an Embryonen, «Retterbabys» und der Eizellspende halten. Die meisten Mitglieder blockten ab und beriefen sich aufs Kollegialitätsprinzip.
Anfang Jahr hat der Bundesrat acht neue Mitglieder in die Ethikkommission gewählt. Der Grund: Amtszeitbeschränkung. Die kritische Stimme von Ruth Baumann-Hölzle ist seither nicht mehr dabei. Sie sagt: «Ich hoffe, dass die Kommission in Zukunft wieder Vor- und Nachteile abwägt.»
In dieser Hoffnung könnte sie sich allerdings täuschen. Denn in der neuen Kommission ist sogar noch ein Arzt mehr vertreten: Benno Röthlisberger. Er ist Leiter der medizinischen Genetik am Kantonsspital Aarau und Mitglied der Schweizer Gesellschaft medizinische Biogenetik. Diese spricht sich explizit für eine Liberalisierung der Gentests an Embryonen und der Eizellspende aus. Auch die Juristin Valérie Junod ist neu in der Kommission und ebenfalls klare Befürworterin der Gentests.
Kommissionspräsident Otfried Höffe sagt zur Zusammensetzung, die Kommission brauche Experten mit Kompetenzen in Medizin, Recht, Soziologie und Ökonomie, biomedizinischer Ethik, Philosophie und Theologie. Die Haltung der einzelnen Mitglieder zu spezifischen Themen sei für den Bundesrat kein Auswahlkriterium, glaubt Höffe.
Gesetzesrevision: Gentests an Embryonen im Reagenzglas
Im Parlament wird zurzeit über eine Revision des Gesetzes zur Fortpflanzungsmedizin beraten. Der Bundesrat schlägt dabei insbesondere vor, dass Ärzte künftig Gentests an Embryonen im Reagenzglas durchführen dürfen. Das ist bis anhin verboten.
Der Ständerat hat im März über den entsprechenden Vorschlag beraten und ihm zugestimmt. Als Nächstes wird sich der Nationalrat dazu äussern. Voraussichtlich Ende 2015 stimmt das Volk über das revidierte Gesetz ab.
Ausserdem ist eine Motion von CVP-Nationalrat Jacques Neyrinck hängig. Er fordert, dass die Spende von Eizellen erlaubt wird.