Zürich ist meine Heimatstadt. Doch ich kann mich nicht daran erinnern. Einmal fuhr ich mit dem Tram stundenlang durch die ganze Stadt. Aber nichts kam mir bekannt vor, nicht einmal das Grossmünster oder das Quartier, in dem ich aufgewachsen war. So geht es mir nicht nur mit Zürich. Alles, was früher war, ist aus meinem Kopf gelöscht. Zum Glück schrieb ich immer Tagebuch. So konnte ich nachlesen, was ich alles erlebt und wie ich mich dabei gefühlt habe. Mein Charakter blieb gleich: Ich bin noch immer eine lebenslustige und tatkräftige Frau.
Vor sechs Jahren fand mich meine Tochter auf dem Balkon – bewusstlos. Im Spital stellten die Ärzte eine Hirnblutung fest und operierten sofort. Als ich nach einer Woche aus dem Koma erwachte, konnte ich nicht mehr denken und kaum sprechen. Verständigen konnte ich mich nur noch auf Französisch, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist. Französisch sprach ich mit meinem Ex-Mann.
Zudem wusste ich überhaupt nicht, wer ich war. Ich erkannte weder meine Tochter, meinen Ex-Mann noch meinen besten Freund. Erst in langen Gesprächen erfuhr ich, wer sie sind. Das war schrecklich. Ich fühlte mich ohnmächtig und ausgeliefert. So ganz ohne Identität wollte ich gar nicht mehr weiterleben.
Ich war mehrere Monate in der Reha. Ich lernte wieder sprechen und mein Lebensmut kam zurück. Danach konnte ich wieder Teilzeit in einem Personalbüro arbeiten und war selbständig. Nur zwei Jahre später kam der nächste Tiefschlag: Die Ärzte stellten eine Krankheit des Rückenmarks fest. Seither bin ich auf den Rollstuhl angewiesen.
Mein Humor ist trotzdem wieder da und ich lache viel. In Zeitungen orientiere ich mich über das Weltgeschehen. Finde ich etwas besonders wichtig, mache ich mir Notizen, damit ich sie später nachlesen kann. Denn eines hat sich nicht geändert: Nach ein paar Minuten vergesse ich alles wieder. Deswegen schreibe ich jeden Tag alles auf, was ich erlebt und geplant habe. Ich tippe alles in mein Tablet. Von Hand mache ich nur die nötigsten Notizen, da ich mit den Händen nicht mehr so geschickt bin. Auch das ist eine Folge der Hirnblutung. Telefonate vermeide ich, wenn immer möglich, weil ich ja sofort wieder vergesse, was ich und die andere Person sagten.
Mir ist bewusst, dass sich mein Gesundheitszustand von einem Tag auf den anderen verschlechtern kann. Damit habe ich mich abgefunden und geniesse, was ich noch kann. Ich lebe sehr gut damit. Kürzlich nahm ich sogar mit meiner Tochter an einer Demo gegen den Klimawandel teil.
Ich besuche oft die wenigen Freunde, die mir geblieben sind. Einige meiden den Kontakt, weil sie nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen. Dabei wäre das ganz einfach – so wie früher! Regelmässig gehe ich ins Hallenbad. Das ist zwar nicht für Rollstuhlfahrer eingerichtet, aber die Bademeister helfen mir ins Wasser. Dann komme ich zurecht und schwimme ein paar Bahnen. Das tut mir gut. Ausserdem tanze ich fürs Leben gerne. Das geht auch im Rollstuhl. Im «Tanzen für alle» redet niemanden über Krankheiten. Da zählt nur die Lebensfreude.
Hirnblutung: Jede Minute zählt!
Übelkeit, Erbrechen und Kopfweh: Davon berichten die meisten nach einer Hirnblutung. Auch Lähmungen, Schwindel und Bewusstlosigkeit können während der Blutung auftreten. Ursache ist ein Blutgefäss im Kopf, das geplatzt ist. Dadurch entsteht grosser Druck auf das Gehirn. Das kann zu schweren Schäden und sogar zum Tod führen. Ärzte versuchen, die Blutung sofort zu stoppen und das Gehirn zu entlasten. In schweren Fällen ist eine Operation nötig.
Hilfe und Informationen
Notruf: 144
Beratungsstelle für Hirnverletzte und Angehörige:
Fragile Suisse
Tel. 044 360 30 60
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