Sie wuchsen in Ungarn auf.Haben Sie den Weltkrieg als Kind mitbekommen?
Zum Teil. Wir blieben lange Zeit vom Krieg verschont. Ich besuchte das Gymnasium, mein Vater führte ein Geschäft für Elektroartikel. Juden konnten zwar keine wichtigen Beamtenposten besetzen, aber erst im März 1944, ich war vierzehn Jahre alt, spürte ich den Krieg am eigenen Leib: Die Deutschen besetzten Ungarn.
Wie äusserte sich das?
Der Einmarsch änderte unser Leben komplett: Alle Juden mussten sich registrieren lassen. Zwei Tage später befahl uns die Regierung, einen gelben Stern zu tragen. Wieder zwei Tage später mussten wir in «Judenhäuser» umziehen, schliesslich in ein Ghetto. Und am 26. Juni verluden die Nazis meine Mutter und mich in einen Waggon nach Auschwitz-Birkenau.
Wussten Sie, was im Lager auf Sie zukommt?
Nein. Wir hatten keine Ahnung. Von unserer Baracke aus konnten wir die Schornsteine der Krematorien sehen. Wir sahen auch die Feuer. Aufseher sagten uns, es seien Bäckereien.
Über eine Million Menschen starben in Auschwitz, nur rund 7000 überlebten. Wie haben Sie es geschaft, das Lager zu überstehen?
Ich hatte Glück. Zweimal musste ich bei einer Selektion antreten. Beim ersten Mal fixierte Lagerarzt Josef Mengele eine Latte auf eineinhalb Meter Höhe. Wer kleiner war oder schwach, den stuften die Nazis als arbeitsunfähig ein und der musste in die Gaskammer. Ich war zwar kleiner, wurde aber mit 21 weiteren Jugendlichen als Arbeitsfähige wieder zurück ins Lager geschickt.
Und beim zweiten Mal?
Wir waren etwa 600 Insassen. Mit Kniebeugen und Liegestützen mussten wir zeigen, ob wir noch arbeitsfähig sind. Auch dieses Mal wurde ich erst bei einer Nachselektion mit rund 50 anderen Kindern zurück in die Baracken geschickt.
Wie haben Sie das körperlich überstanden?
Die Rote Armee befreite uns im Januar 1945. Ich weiss nicht, wie lange ich noch überlebt hätte. Ich war bereits sieben Monate in Auschwitz, wog nur noch 27 Kilo und war sehr schwach. Polnische und sowjetische Ärzte kümmerten sich um uns.
Wie ging es Ihnen nach der Befreiung psychisch?
Am Anfang war es schwer. Ich habe viel geweint. Danach fühlte ich mich jeweils etwas leichter. Doch noch jahrelang plagten mich Albträume.
Was half Ihnen in dieser Zeit?
Ich war jung und ging in die Schule, später studierte ich. Es half mir, dass ich beschäftigt war und Pläne für die Zukunft machen konnte.
Wie stark spürten Sie körperliche Folgen?
Als 17-Jähriger hatte ich ein Geschwür im Zwölffingerdarm. Mitte zwanzig wuchs es erneut. Vielleicht waren Angst und Hunger im Konzentrationslager der Grund dafür, ich weiss es nicht. Es besserte erst nach meiner Heirat.
Während Jahrzehnten sprachen Sie kaum über das Erlebte. Weshalb?
Ich gab schon Antwort, wenn man mich fragte. Aber man kann ja nicht im Gespräch ganz beiläufig erwähnen, dass man in Auschwitz war.
Wie ist es für Sie heute, über die schlimme Zeit in Auschwitz zu sprechen?
Es macht mir nichts mehr aus. Früher war es schwierig. Es machte mich traurig. Ich weiss von Überlebenden, die nach solchen Gesprächen nächtelang nicht richtig schlafen konnten.
Warum ist es Ihnen so wichtig, darüber zu reden?
Ich möchte zeigen, wozu das Ausgrenzen von Menschen führen kann. Wir könnten von der Geschichte lernen. Aber es scheint, dass vielen nach wie vor das Mitgefühl für Schwächere fehlt.
Hegen Sie keinen Groll gegen die Personen, die Ihnen Leid angetan haben?
Nein. Ich habe die Geschichte akzeptiert, wie sie ist. Sie ist ein Teil von mir.
Bei den Ausschreitungen in Chemnitz beschimpften Rechtsextreme kürzlich auch Juden. Was löst das bei Ihnen aus?
Es ist schlimm. Ich mache mir Sorgen um meine Kinder und meine Enkel.
Um sich selbst machen Sie sich keine Sorgen? Laut dem Israelitischen Gemeindebund nimmt die Gewalt gegen Juden auch in der Schweiz zu.
Nein, ich bin ja schon etwas älter und gehe nicht mehr oft aus dem Haus. Ich bekomme das deshalb nicht mit, nur in der Zeitung lese ich davon.
Der Zentralrat der Juden hat nach einer Attacke auf einen Israeli in Berlin empfohlen, Juden sollen die Kippa nicht auf der Strasse tragen. Wie ist das für Sie?
Das enttäuscht mich. Niemand sollte aufgrund der Religion, Hautfarbe, Herkunft oder seiner sexuellen Neigung Rassismus erleben.
Sie tragen keine Kippa. Warum nicht?
Häufig tragen nur streng Gläubige eine Kippa. Ich bin aber nicht religiös. Das war ich auch vor dem Krieg nicht. Als Jude müsste ich Fleisch und Milchspeisen trennen, aber ich würde ein Schinken-Käse-Sandwich nicht zurückweisen.
Fühlen Sie sich in der Schweiz sicher?
Ja. Ich habe nicht mehr Angst als andere ältere Menschen. Zum Beispiel, dass ich ausgeraubt werde, weil ich nicht mehr so schnell bin.
Zur Person: Gabor Hirsch
Als er aus dem Lager Auschwitz befreit wurde, kehrte Gabor Hirsch nach Ungarn zurück. Nach dem Aufstand 1956 flüchtete er über Österreich in die Schweiz. Er lernte Deutsch und beendete sein Elektrotechnik-Studium an der ETH Zürich. Der heute 88-Jährige wohnt in Esslingen ZH, hat zwei Söhne und ist mehrfacher Grossvater.