Manchmal hat Manuela Näf ein mulmiges Gefühl. Trotzdem lässt sie ihre Töchter, die neunjährige Jenny und die sechsjährige Alessia, alleine mit dem Velo zum Schulhaus fahren, um dort zu spielen. «Ich kann sie ja nicht immer kontrollieren», sagt die 27-Jährige aus dem Kanton Thurgau. Sie versucht, nicht immer ans Schlimmste zu denken. «Früher hat man die Kinder auch häufiger rausgelassen.»
Heute geben immer weniger Eltern ihren Kindern diesen Freiraum. Laut Erziehungsexperte Josef Kraus konnte sich vor 40 Jahren ein zehnjähriges Kind noch in einem Umkreis von fünf Kilometern ums Haus frei bewegen. Heute seien es noch 500 Meter. Dabei seien die Strassen heute nicht gefährlicher, so Kraus. «Im Gegenteil: Die Zahl der Verkehrsopfer ist massiv gesunken.»
Bei jedem Wehwehchen gleich zur Stelle
Vermehrt stellen Fachleute fest, dass es Eltern mit der Fürsorge übertreiben. Marlies Bieri vom Dachverband Elternbildung CH sagt: «Immer mehr Eltern wollen ihr Kind vor allem Negativen bewahren.» Josef Kraus kommt als Leiter eines Gymnasiums in Bayern immer wieder mit Eltern in Kontakt, die ihre Kinder ständig überwachen und bei jedem Wehwehchen zur Stelle sind. Kürzlich hat er über das Phänomen ein Buch geschrieben. Titel: «Helikopter-Eltern». Kraus schätzt, dass jedes sechste bis jedes zehnte Kind von Helikopter-Eltern rundumversorgt wird – Tendenz steigend.
Diese Eltern meinen es zwar besonders gut. Aber gut gemeint sei oft das Gegenteil von gut, so Kraus. Denn so werde man dem natürlichen Drang aller Kinder, die Dinge selber zu machen, nicht gerecht. Schlimmer noch: Die Eltern schaden dem Kind. «Wenn ein Kind nicht draussen herumrennen darf und auch nicht selbständig zur Schule geht, muss man sich nicht wundern, dass es unsportlich und ungeschickt wird.» Nur wenn die Kinder sich alleine in der Welt bewegen würden, könnten sie lernen, Risiken richtig einzuschätzen.
Auch soziale Fähigkeiten können Kinder am besten entwickeln, wenn die Eltern nicht zu schnell eingriffen, so Marlies Bieri. Man könne Kindern durchaus zumuten, dass sie einen Streit selber schlichten: «So lernen sie, Nein zu sagen und sich durchzusetzen.»
Überbehüten fängt früh an. Manche Eltern hätten schon bei Kleinkindern eine klare Idee davon, wie sich das Kind entwickeln solle, so Bieri. «Jeder Schritt wird geplant.» Etwa die Wahl der Kindertagesstätte: Einige bieten besonders intensive Frühförderung an, bei anderen sprechen die Betreuerinnen Englisch, damit Dreijährige bereits eine Fremdsprache lernen. Doch in den ersten Lebensjahren müssen Kinder laut Bieri zuerst alltägliche Dinge lernen – wie man die Socken anzieht, die Zähne putzt oder mit einer Schere umgeht. Das schauen Kinder den Erwachsenen ab, wenn sie die Gelegenheit haben. In ihren Kursen vermittelt Marlies Bieri deshalb den Eltern: Das Beste, was sie für Kleinkinder tun können, ist sich Zeit zu nehmen und dem Kind viele Alltagserfahrungen zu ermöglichen.
Auch Nicole Zimmermann schickt ihre beiden Kinder nicht in die Frühförderung. «Sie sollen noch Kinder sein dürfen», sagt die 31-Jährige aus Dottikon AG. Auch in der Spielgruppe, in die der vierjährige Quirin und die dreijährige Zoë an zwei Morgen pro Woche gehen: «Dort lernen sie ganz nebenbei, mit anderen Kindern umzugehen, zu teilen, am Mittagstisch auf die Kleinen Rücksicht zu nehmen.» Und das alles ohne ein Förderprogramm.
Unnötig hohe Erwartungen
Besonders bei gebildeten Eltern ist laut Kraus das Verplanen des Kindes verbreitet. In deren Augen muss das Kind unbedingt die Matura schaffen. Ein «Irrglaube», wie Kraus betont. Denn in den deutschsprachigen Ländern sei die Berufsbildung sehr gut ausgebaut: «An den Fachhochschulen gibt es unzählige Möglichkeiten, sich weiterzubilden, ohne dass man die Matura hat.»
Eher zu «Helikopter»-Verhalten neigen auch Eltern mit nur einem Kind, sagt Marlies Bieri. Ganz besonders, wenn es schwierig war, überhaupt schwanger zu werden: «Wenn das ersehnte Kind endlich da ist, kann es zum Projekt werden. Nun sollen lang gehegte Erwartungen der Eltern wahr werden.»
Aus ihren Elternkursen weiss Bieri: Sehr viele Eltern sitzen stundenlang mit dem Nachwuchs am Tisch und helfen bei den Hausaufgaben. Doch dies schwäche das Selbstwertgefühl des Kindes. «Es lernt, dass die Eltern es besser wissen und es gar nicht selbst überlegen muss.» Bieri ist überzeugt: «Kinder können sehr viel selber machen, wenn man sie nur lässt.» Eltern sollten ihren Kindern nur so viel helfen wie nötig. «Sonst machen sie sich zum Diener ihrer Kinder und ihre Kinder zu Prinzen und Prinzessinnen.»
Selbständigkeit ist auch Jeannette Steinles oberstes Ziel in der Erziehung. Ihre zwei Teenager lässt sie deshalb wenn nötig auch die Konsequenzen spüren. Etwa, wenn es ums selbständige Aufstehen am Morgen geht. Der 13-jährige Reto schaffte das oft nicht. «Ständig hatten wir deshalb Knatsch, ich musste ihn immer wieder aus dem Bett holen», erzählt die 49-Jährige aus Liestal BL. Bis sie eines Tages entschied, das nicht zu tun. Absichtlich liess sie ihn verschlafen. Reto erschrak und verpasste die erste Schulstunde. Danach musste sie ihn nicht mehr wecken.
Tipps: Was die Kinder von ihren Eltern wirklich brauchen
- Lassen Sie Ihr Kind im Haushalt mithelfen, auch wenn das Zeit braucht.
- Wenn das Kind Mühe mit den Hausaufgaben hat: Unterstützen Sie es, aber lassen Sie die Verantwortung bei ihm.
- Ihr Kind muss nicht das beste, schlauste, schnellste sein.
- Verbringen Sie viel Zeit mit Ihrem Kind – und verplanen Sie diese Zeit nicht.
- In vielen Gemeinden gibt es Kurse für Eltern. Eine Übersicht finden Sie auf
www.elternbildung.ch/Elternkurse und Veranstaltungen. - Eine hilfreiche und entspannte Sicht aufs Elternsein bieten die Bücher von Remo Largo: «Babyjahre», «Kinderjahre» sowie «Jugendjahre», alle sind im Piper-Verlag erschienen.
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