Herr Holdener, Sie gehen jeden Tag rund zehn Kilometer auf den Gleisen. Sind Sie topfit?
Ja. Freunde sagen mir manchmal, ich könne essen, was ich wolle, ohne dick zu werden. Ich musste noch nie auf meine Ernährung achten.
Sie sind täglich an der frischen Luft. Das ist auch gut für das Immunsystem.
Ich bin tatsächlich selten krank.
Haben Sie den gesündesten Beruf der Welt?
In einem gewissen Sinn schon. Mein Blutdruck ist optimal, ich habe keinen Diabetes und ich fühlte mich noch nie ausgebrannt oder überlastet. Aber ich bin auch vielen Gefahren ausgesetzt.
Welchen?
Die Züge sind schnell und tonnenschwer. Vor allem in den Kurven ist es gefährlich, da sehe ich den Zug nicht kommen. Wenn es regnet, sind zudem die Bahnschwellen glitschig wie Schmierseife.
Sind Sie schon oft ausgerutscht?
Ab und zu, wenn ich unaufmerksam war. Dann sinkt mir jeweils das Herz in die Hose. Ich habe Angst, dass mich ein Zug überfährt, falls ich unglücklich stürze. Ich bin aber zum Glück noch nie hingefallen.
Wie gehen Sie mit diesem Risiko um?
Ich konzentriere mich stark auf meine Arbeit. Wenn ich zum Beispiel den Hauptbahnhof in Zürich ablaufe, bin ich mit einem Kollegen unterwegs. Mit ihm rede ich den ganzen Tag fast kein Wort, damit ich nicht abgelenkt bin.
Das klingt nicht sehr sozial.
Ich muss das so machen. Sonst wäre es zu gefährlich. Aber es ist anstrengend. Am Abend bin ich k. o.
Sie verlassen die Gleise nur Sekunden, bevor ein Zug an Ihnen vorbeidonnert. Wurde es auch schon knapp?
Ja, das kam schon vor. Einmal sah ich den Zug vor einer Kurve zu spät und der Lokführer musste eine Schnellbremsung einleiten. Ich konnte im letzten Moment einen Satz zur Seite machen. Mein Puls raste. Es war ein Schock. In solchen Momenten bin ich mir bewusst, wie gefährlich mein Beruf ist.
Konnten Sie danach noch weiterarbeiten?
Nicht sofort. Ich musste innehalten und vom Gleis weg. Ich trank einen Schluck Wasser und ass eine Frucht. Das gab mir neue Energie. Dann ging ich zurück aufs Gleis und konzentrierte mich auf meine Arbeit. Am Feierabend kam das Ganze nochmals hoch. Ich musste mich zwingen, nicht darüber nachzudenken.
Und das gelang Ihnen?
Ja, ich kann gut abschalten. Einige würden wohl sagen, ich verdränge. Aber wenn ich Angst hätte, müsste ich mit dem Beruf aufhören. Manchmal rede ich mit Arbeitskollegen über solche Erlebnisse. Es hilft mir zu hören, dass es bei ihnen auch schon knapp wurde.