Der Berner B. K. war ein rebellisches Kind: frech, manchmal gar aggressiv. Als sich seine Eltern scheiden liessen, verstärkte sich das. Im Alter von elf Jahren stellten ihm die Ärzte die Diagnose Schizophrenie – obwohl er keine typischen Symptome hatte wie wirre Gedanken oder Stimmen im Kopf. In der psychiatrischen Klinik verschrieben ihm die Ärzte zuerst das Medikament Zyprexa, dann Solian. Beide Präparate gehören zur Gruppe der Neuroleptika. Sie dämpfen das Nervensystem stark. «Ich fühlte mich leer und nahm über 25 Kilo zu», sagt der heute 33-jährige B. K. Zudem begann er zu zittern.
Auch der Bündner L. R. (18) erhielt vor drei Jahren die Diagnose Schizophrenie. In der Klinik verabreichte man auch ihm Neuroleptika: zuerst Haldol, dann Zyprexa, zuletzt Abilify. Auch L. R. nahm über 10 Kilo zu und war kaum ansprechbar. «Er war wie weggetreten», sagt seine Mutter.
Ärzte kritisieren den Einsatz solcher Medikamente bei Kindern und Jugendlichen. Denn die meisten Medikamente sind für Patienten unter 18 Jahren gar nicht zugelassen. Und sie haben starke Nebenwirkungen (siehe Tabelle Im PDF).
Der Depressionsforscher Peter Ansari aus Scheessel (D) sagt, jeder Arzt sollte davon absehen, Kindern und Jugendlichen Neuroleptika zu verschreiben. Und Psychiater Piet Westdijk aus Brugg AG ergänzt: «Medikamente sind nur im äussersten Notfall eine Option.»
Bereits länger bekannt ist, dass Neuroleptika Übergewicht und Benommenheit verursachen. Das belegen verschiedene Studien. Aber auch Krampfanfälle, Schwindel, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit oder Übelkeit kommen oft vor. Nun zeigt eine im letzten Mai veröffentlichte Übersichtsarbeit koreanischer Forscher: Das Risiko von Nebenwirkungen wie Krämpfen und Bewegungsstörungen erhöht sich um das Drei- bis Achtfache. Dafür untersuchten die Forscher Daten von fast 11 000 Kindern und Jugendlichen, die solche Medikamente zum ersten Mal erhielten.
Bis heute ist unzureichend belegt, wie Neuroleptika bei Kindern und Jugendlichen wirken. Fachleute sehen das kritisch, weil besonders das Gehirn noch mitten im Entwicklungsprozess ist und man zu wenig über die Langzeitfolgen weiss.
Starke Nebenwirkungen auch bei Antidepressiva
Nicht nur bei Schizophrenie verschreiben Ärzte Kindern und Jugendlichen Tabletten, auch bei anderen psychischen Krankheiten oder Störungen wie Depressionen oder ADHS. Hier sind es etwa Fluoxetin, Sertalin oder Ritalin. Auch sie haben starke Nebenwirkungen: Gewichtszunahme, Übelkeit, Verwirrtheit.
Auch ihr Nutzen ist nur schwach belegt. Letzten Mai veröffentlichte das Forscher-Netzwerk Cochrane eine Übersichtsarbeit dazu. Die Wissenschafter prüften 26 Studien. Ergebnis: Bei Depressionen wirken Antidepressiva kaum besser als Plazebos.
Diese Erfahrung machte auch Robert Stoll aus Riehen BL. Seine Tochter (17) leidet seit drei Jahren an einer Depression und an Bulimie. Als es ihr trotz einjähriger Psychotherapie nicht besser ging, verschrieben ihr die Ärztinnen das Antidepressivum Fluoxetin. Auch nach zwei Monaten hatte sich nichts verbessert. Vater und Tochter entschieden sich, die Pillen abzusetzen. Robert Stoll sagt, der Tochter gehe es jetzt etwas besser. Ihr helfe vor allem, über ihre Ängste zu sprechen.
Fachleute erstaunt das nicht. Psychiater Westdijk: «Medikamente betäuben nur, lösen das Problem aber nicht.» Deshalb sei es besser, beim Auslöser der Störung anzusetzen. Ein Therapeut soll mit dem Kind über schlechte Gefühle sprechen und sie neu einordnen. Dadurch beginnt der Patient, die Probleme anders wahrzunehmen, was den Stress und Druck lösen kann. Und Therapiestunden mit der Familie können aufklären, warum die Beziehung zwischen Eltern und Kind so kompliziert ist.
Ansari wie Westdijk fordern mehr Pädagogen statt Medizinern in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Denn die Gründe für psychische Störungen seien oft ungesunde Beziehungen oder fehlender Sinn im Leben der Jugendlichen.
Klinikärzte rechtfertigen den Einsatz der Medikamente. Für Alain Di Gallo, Chefarzt an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, können Medikamente in gewissen Fällen durchaus sinnvoll sein. «Zum Beispiel dann, wenn ein Kind wegen einer Panikattacke oder schweren Depression seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann.» Das sagt auch Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste in Luzern. Die Dosis sei wichtig, damit die Wirkung grösser ist als die Nebenwirkungen. Für die Dauer der Medikation gelte: so lange wie nötig, so kurz wie möglich.
Tipps und Anlaufstellen
- Sprechen Sie mit dem Kind über seine Störungen.
- Informieren Sie Bezugspersonen in der Schule oder im Verein.
- Suchen Sie einen Therapeuten.
- Lassen Sie sich genau informieren über die Behandlung.
- Holen Sie sich eine unabhängige Zweitmeinung ein.
- Suchen Sie Unterstützung bei anderen Betroffenen und Angehörigen.
Wichtige Fachstellen:
Dachverband der Vereinigungen Angehöriger psychisch Kranker: www.vask.ch, Tel. 044 240 12 00;
Pro Mente Sana, Anlaufstelle für Betroffene, Angehörige und Fachleute: www.promentesana.ch, Beratung: Tel. 0848 800 858; Psychex, Verein gegen Zwangspsychiatrie: www.psychex.ch, Tel. 0848 00 00 33 (Fr. 0.08 pro Anruf und Minute)
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