Es ist Samstagmorgen im Box-Center Frenkendorf BL. Aus den Boxen tönen die rockigen Klänge der Gruppe Red Hot Chili Peppers. Ein zierliches, blondes Mädchen in pinkem Shirt hält Hanteln in den Händen und schlägt so in die Luft. Neben ihr boxt eine junge Frau mit dunklem Haar auf einen Torso aus Gummi ein. Eine andere Jugendliche bearbeitet den Sandsack. Auch Anita Schaub aus Frenkendorf ist dabei. Sie sagt: «Ich komme zweimal pro Woche hierher. Nach einer Stunde Fitnessboxen bin ich kaputt, das gefällt mir. Es ist effizient und man trainiert den ganzen Körper.»
«Keine Mutter will, dass ihre Tochter boxt»
Boxclubs und Fitness-Seiten im Internet preisen das Fitnessboxen als ideales Training für eine gute Figur. «Boxen Sie sich schlank», heisst es auf dem deutschen Abspeckportal Eatsmarter.de. «Ring frei für die Traumfigur», steht auf der Website Ich-bin-dann-mal-schlank.de.
Tatsächlich stärkt Fitnessboxen klassische «Problemzonen»: Bauch, Beine und Po. Ausserdem ist es gut für das Herz und für die Knochen und verbessert die Koordination. Australische Forscher liessen übergewichtige Personen viermal pro Woche trainieren. Eine Gruppe machte Fitnessboxen, die andere trainierte schnelles Gehen. Nach zwölf Tagen untersuchten die Forscher die Teilnehmer. Resultat: Diejenigen aus der Fitnessbox-Gruppe hatten Körperfett verloren, ihren Blutdruck gesenkt und fühlten sich besser. Bei den Schnellgehern hingegen zeigten sich keine Erfolge.
Kein Wunder, boxen sich immer mehr Frauen fit. Beispiel Boxclub Aarau: Präsident Urs Keller sagt, pro Training kämen fünf neue Teilnehmer.
Boxclubs loben das Training als gesund und harmlos. Das Center Frenkendorf schreibt auf seiner Website: «Im Fitnessboxen kämpfen Sie nur mit sich selbst. Daher sind Verletzungen durch Fremdeinflüsse ausgeschlossen.»
Doch vielen Clubs dient das Fitnessboxen als Reservoir für neue Kampftalente, gerade Frauen. Denn davon haben Boxclubs zu wenig. Frauen dürfen erst seit dem Jahr 2012 an der Olympiade teilnehmen, die Elite an der Spitze ist deshalb noch klein. Doch nur wenige Frauen wollen boxen. «Sie haben Vorbehalte», sagt Andreas Anderegg, Präsident des Verbands Swiss Boxing. Boxen gelte als aggressiver Sport für Männer, die «schlegeln» wollten. Anderegg: «Keine Mutter will, dass ihre Tochter boxt.» Und auch Gregor Stadelmann, Präsident des Frenkendorfer Box-Centers, sagt: «Wenn man nur Wettkampfboxen anbietet, kommt keine Frau.»
«Boxkämpfe sind Körperverletzung»
Das Kalkül geht auf, wie Keller vom Boxclub Aarau bestätigt. Jedes Jahr bleibe eine Fitnessboxerin im Sport hängen und steige sogar in den Ring. Eine Umfrage des Gesundheitstipp bestätigt: Von elf befragten Wettkampf-Boxerinnen sind zehn übers Fitnessboxen eingestiegen.
Ein Beispiel für eine junge Fitnessboxerin ist Moana. Die 14-Jährige geht erst seit zweieinhalb Monaten ins Fitnessboxen im Box- Center Frenkendorf. Sie ist begeistert: «Ich kann mich richtig auspowern» (siehe oben). Während des Trainings schickt Gregor Stadelmann die Schülerin in den Ring. Dort übt sie mit einem jungen Mann, Schlägen auszuweichen – ohne Körperkontakt. Stadelmann sagt: «Wenn sie weiterhin so motiviert ist, kann sie vielleicht irgendwann einmal kämpfen.»
Doch der Sport ist gefährlich: Allein die Suva-Unfallversicherung zählte von 2009 bis 2013 über 3000 gemeldete Verletzungen. Dazu gehörten 1240 Verletzungen an Handgelenken oder Fingern und 420 an Gesicht, Gesichtsknochen oder Ohren. Am schlimmsten aber: Immer wieder sterben Boxer im Kampf. Für den deutschen Nervenarzt Hans Förstl von der Technischen Universität München sind Boxkämpfe «Körperverletzung». Förstl hat eine grosse Übersichtsstudie gemacht. Jeder zehnte Boxer leidet ständig unter Vergesslichkeit und Kopfschmerzen.
Förstl erklärt: «Schläge auf den Kopf und Stürze auf den Boden können Nervenzellen schädigen und zu Hirnblutungen führen.» Die Folge: Betroffene haben nicht nur Mühe mit dem Gedächtnis, sondern auch mit der Fähigkeit, Probleme zu lösen. Nicht umsonst sprechen Kritiker bei diesen Problemen auch von der Boxerdemenz.
Ein Gehirn wie bei Alzheimerkranken
Neue Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass sich bei den Sportlern nach Trainingskämpfen im Gehirn mehr Eiweisse bilden, die für die Alzheimerkrankheit verantwortlich sind. Solche Eiweissklumpen hatte Nervenärztin Jennian Geddes bereits 1996 im Hirn des toten Boxers Bradley Stone gefunden. Die Nervenfasern im Gehirn des 23-jährigen Briten waren so geschädigt wie bei einem Alzheimerkranken. Und das, obwohl der junge Mann gesund gewirkt hatte. Geddes kam zum Schluss: Bis Boxer merken, dass sie mit dem Kämpfen aufhören müssen, ist es oft zu spät. Das Hirn ist zu kaputt, um sich zu erholen.
Die deutsche Organisation «Ärzte der Welt» hat deshalb schon mehrmals ein Verbot gefordert. Und die Suva listet das Boxen bei den Risikosportarten auf, vergleichbar mit Motocross-Rennen fahren und Basejumping – dem Fallschirmspringen von Felswänden (Gesundheitstipp 9/2015).
Andreas Anderegg vom Verband Swiss Boxing räumt zwar ein, dass Boxen ein Risikosport sei. Doch die meisten Clubs würden nur das Amateurboxen betreiben. Dabei komme es zu viel weniger Verletzungen als im Profiboxen, weil die Gesundheit an erster Stelle stehe. Amateurboxen ist eine olympische Disziplin. Dabei gelten andere Regeln als für Profis. Zum Beispiel müssen die Wettkämpfer grössere Handschuhe tragen, das schützt Gegner und Hände. Jugendliche und Frauen tragen ausserdem einen Helm. Doch Studien lassen den Schluss zu, dass auch Amateurboxer ihr Gehirn aufs Spiel setzen.
Urs Keller argumentiert, man könne niemanden zu Wettkämpfen zwingen. Man müsse fünf- bis sechsmal pro Woche trainieren. Das mache nur, wer wirklich Freude am Sport habe und übermässig motiviert sei. Laut Gregor Stadelmann geht es dem Frenkendorfer Club beim Fitnessboxen auch darum, Spass zu haben und Jugendlichen Disziplin beizubringen. Neun von zehn Mitgliedern würden nie kämpfen, sondern blieben beim Fitnessboxen, bei dem das Verletzungsrisiko niedriger sei als beim Fussball. Ausserdem seien Frauen weniger gefährdet als Männer. Ihre Schläge hätten weniger Wucht. Doch Nervenarzt Hans Förstl lässt das nicht gelten: «Boxtrainer, die so argumentieren, scheinen nur geringe Kenntnisse der menschlichen Biologie zu haben.» Selbstverständlich leide das Gehirn auch bei kräftigen Stössen durch Frauenfäuste.
Was für Erfahrungen machen Sie mit Fitnessboxen?
Moana Stohler, 14, Frenkendorf BL
«Im Fitnessboxen kann ich mich auspowern. Ausserdem sehe ich, dass ich weiterkomme: Ich trainiere erst seit zweieinhalb Monaten und habe bereits Muskeln an Armen und Bauch. Ausserdem ist es mir in meiner Freizeit nicht mehr so langweilig. Ich weiss noch nicht, ob ich einmal Kämpfe machen möchte.»
Michèle Alexandra Dingnis, 40, Oltingen BL
«Ich begann mit Fitnessboxen. Aber wenn ich echte Kämpfe sah, spürte ich ein Reissen. Als der Trainer mich dann fragte, ob ich einmal in den Ring steigen wolle, sagte ich sofort: Ja. 2008 wurde ich Schweizermeisterin. Gute Vorbereitung hat mir geholfen, ohne ‹Angst› in den Ring zu steigen. Meine schlimmste Verletzung war ein Nasenbeinbruch. Den zog ich mir zu, als ich mental nicht vorbereitet war.»
Rahel Zeller, 33, Frenkendorf BL
«Ich dachte schon immer, dass Boxen ein toller Sport ist. Seit drei Jahren mache ich Fitnessboxen. Es ist sehr anstrengend, und genau das brauche ich. Ich gehe auch ab und zu in den Ring, aber nur zum Spass – ohne Wettkämpfe.»