Dicke Kinder sollen dank Süssstoffen abnehmen. So steht es in einer neuen Broschüre der Schweizer Gesellschaft für Ernährung und der Adipositas-Stiftung, einer Anlaufstelle für Übergewichtige. Die beiden Organisationen packten die Broschüre in ihre hauseigenen Magazine und verschickten sie im Juni an ihre Abonnenten. Den Inhalt lieferten Ernährungswissenschafter. Geldgeberin hinter der Aktion: Coca-Cola.
In der Broschüre heisst es, Kinder, die von Süssgetränken auf Light-Varianten umsteigen, würden abnehmen. Oder: Schwangere könnten durch Getränke mit Süssstoffen ihre Lust auf Süsses befriedigen. Gesundheitlich sei das Ganze kein Problem: «Aus heutiger Sicht gibt es keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür, dass Süssstoffe bedenklich sind.»
Die Gesellschaft für Ernährung gilt punkto gesundem Essen als nationale Autorität. Sie erbringt denn auch immer wieder Leistungen für die öffentliche Hand.
Doch die Werbung für Süssstoffe kommt bei Fachleuten schlecht an.
Facharzt: Süssstoffe sind kein Abspeckmittel
Kaspar Berneis, Ernährungswissenschafter und leitender Arzt am Unispital Zürich, sagt: «Niemand verliert Gewicht, weil er Getränke mit Süssstoffen trinkt. Um das zu erreichen, muss man gesünder essen und sich mehr bewegen.» Kinder sollten besser Wasser trinken. Arzt John van Limburg Stirum, ehemaliger Präsident der Fachgesellschaft für Ernährung und Orthomolekularmedizin Schweiz, ergänzt: Kinder stumpften ihren Geschmackssinn ab, wenn sie ständig Süsses bekämen. Sie bräuchten dann immer mehr und mehr Süsse, damit das Getränk noch genauso süss schmecke: «Das ist wie eine Sucht», sagt der heutige Chefarzt der Seegartenklinik Kilchberg ZH.
Der deutsche Ernährungsfachmann Hans-Ulrich Grimm betont: «Süssstoffe erhöhen das Risiko für Zuckerkrankheit und Herzleiden.» Der menschliche Körper könne zu viel Süsse nicht verkraften. «Er produziert zu viel Insulin. Die Bauchspeicheldrüse ermattet», so Grimm.
Auch schwangere Frauen sollten auf Süssstoffe verzichten. Stefan Weigt vom Verband für Unabhängige Gesundheitsberatung verweist auf eine dänische Studie aus dem Jahr 2012 mit 60 000 Frauen. Das Resultat deute darauf hin, dass Süssstoffe Frühgeburten fördern.
Van Limburg Stirum warnt zudem: Wenn die Leber den Süssstoff Aspartam abbaue, entstehe Alkohol. «Das ist für Schwangere nicht gut.» Aspartam gehört zu den umstrittensten Süssstoffen. Es ist etwa in Coca-Cola Light und Zero enthalten. Studien geben Hinweise darauf, dass der Süssstoff das Risiko für Leukämie oder Lungenkrebs erhöhen könnte. Möglicherweise löst der Stoff auch Migräne und Depressionen aus.
Ebenfalls in der Kritik stehen Cyclamat und Saccharin. In sehr hohen Dosen können sie bei Tieren Blasenkrebs hervorrufen. In den USA wurde Cyclamat deshalb vom Markt genommen. In der Schweiz süsst es Rivella Blau.
Mit der Broschüre endet die Zusammenarbeit zwischen der Gesellschaft für Ernährung und Coca-Cola nicht. Die Gesellschaft liess sich Anfang September den Empfang für eine Fachtagung von der Getränkefirma bezahlen. Thema des Einstiegssymposiums: «Wahrnehmung und Sicherheit von Süssstoffen.»
Chefarzt John van Limburg Stirum sagt dazu: «Das ist, wie wenn ein Waffenhersteller einen Anlass über die Sicherheit von Waffen finanziert.»
Für Hans-Ulrich Grimm schlagen sich die Ernährungsgesellschaft und die Adipositas-Stiftung durch ihr Verhalten auf die Seite von Coca-Cola. Das sei verantwortungslos. «Diese Organisationen sind eigentlich der Wissenschaft und der Gesundheit verpflichtet.»
Besser Wasser und ungesüssten Tee trinken
Coca-Cola Schweiz sagt, man sei sich bewusst, dass Übergewicht eine Volkskrankheit ist. «Wir nehmen unsere Verantwortung wahr.» Die Broschüre sei ein Beitrag zur öffentlichen Debatte über Gesundheit und Ernährung. Die Kritik an den Süssstoffen lassen die Verantwortlichen hingegen nicht gelten: «Wir verwenden nur Zusätze und Inhaltsstoffe, die absolut unbedenklich sind und von den Behörden als sicher eingestuft werden.»
Christian Ryser, Geschäftsführer der Gesellschaft für Ernährung, schreibt, die Unabhängigkeit sei gewährleistet. Zudem seien Light- und Zero-Getränke «zwar energiearm, aber dennoch keine empfehlenswerten Durstlöscher». Die Gesellschaft für Ernährung rate zu Wasser und ungesüsstem Tee.
Heinrich von Grünigen, Präsident der schweizerischen Adipositas-Stiftung, sagt: «Coca-Cola macht seinen Umsatz sowieso, dann können wir das Unternehmen genauso gut ins Boot holen.» Inhaltlich mische sich Coca-Cola nicht ein. «Uns ist jedes Mittel Recht, das die Leute davon abhält, zuckerhaltige Getränke zu kaufen», so von Grünigen. «Auch wenn es mir lieber wäre, sie würden Wasser trinken.»
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