Wenn jemand die Autotüre laut schliesst, erschrecke ich. Wenn jemand im Laden etwas fallen lässt oder wenn ich einen Helikopter höre, werde ich unruhig. Ich rannte auch schon in Panik weg.
Denn das alles erinnert mich an den Schuss, der zwei Zentimeter an meinem Herzen vorbeiging. Diesen Schuss feuerte mein Freund ab. Er hatte mich zuerst aus dem Tiefschlaf geweckt und dann in die Brust geschossen. Danach erschoss er sich vor meinen Augen. Er sah offenbar keinen Ausweg mehr. Er hatte schwere Depressionen. Die Schmerzen spürte ich sofort. Im Schock rannte ich auf die Strasse und klingelte bei den Nachbarn. Jemand alarmierte die Polizei. Ein Helikopter brachte mich ins Spital. Das ist jetzt vier Jahre her.
Seither ist nichts mehr, wie es früher war. In der Nacht kann ich nicht alleine sein. Deshalb wohne ich jetzt in einer WG. Ich habe oft schreckliche Angstträume. Seit der Tat zog ich dreimal um. Ich habe auch andere Kleider. Alles, was ich vorher trug, erinnert mich an meinen Freund und die Tat. Nachts getraue ich mich nicht mehr allein auf die Strasse. In einer Menschenmenge bekomme ich Herzrasen.
Ich werde das Geschehene wohl nie vergessen können. Manchmal bin ich immer noch wütend auf meinen Freund. Trotzdem konnte ich ihm verzeihen, denn er war krank. In seiner Depression wurde er immer gehässiger, vor allem in den letzten Lebenswochen. Wir hatten wegen Kleinigkeiten Streit, danach sprach er tagelang nicht mit mir. Das ertrug ich nicht mehr. Ich brauchte Abstand und zog aus unserem Haus aus. Ich ging zu einem Bekannten. Mein Freund brach ins Haus ein – mit einer Waffe. Das hätte ich nie gedacht. Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass er Suizid begeht. Es beschäftigt mich oft, ob ich es hätte voraussehen müssen.
Auch körperlich spüre ich die Folgen. Die Kugel traf mehrere Rippen, drang durch die Lunge und trat am Rücken wieder heraus. Ich habe noch Splitter der zertrümmerten Rippen im Körper. Sie bewegen sich und verursachen starke Schmerzen. Der Schuss schädigte auch wichtige Nerven. Sie strahlen auf der linken Körperseite ständig Schmerzen aus. Deshalb muss ich jeden Tag starke Medikamente einnehmen. Meinen Beruf als Verkäuferin werde ich nie mehr ausüben können, denn bei längerem Stehen oder Sitzen werden die Schmerzen unerträglich. Deshalb verhandle ich seit drei Jahren mit der IV über eine Rente. Erst kürzlich wurde in einem Vorentscheid jede Rente abgelehnt.
Mein geregelter Tagesablauf hilft mir sehr. Auch gehe ich immer noch in eine Traumatherapie. Mit Psychotherapie, autogenem Training und Spaziergängen versuche ich, im «Jetzt» zu leben. Zum Glück ist meine Mutter immer für mich da, wenn ich sie brauche. Mit ihr kann ich über alles reden. Wenn ich unter Freunden bin, kann ich mein Schicksal für eine Weile vergessen. Ich bin dankbar, dass ich überlebt habe. Es geht mir nicht gut, aber ich bin froh, dass ich nicht noch Schlimmeres auszuhalten habe. Zudem lenken mich meine Büsis ab und geben mir viel Wärme.
Suizid – und der andere soll auch sterben
Manchmal nehmen Menschen nicht nur sich selbst das Leben, sondern reissen andere mit in den Tod. Die Täter sind oft Männer über 50 Jahre – das Opfer meistens die Partnerin. Jérôme Endrass, stellvertretender Leiter des Zürcher Amts für Justizvollzug, sagt: «Bei den Tätern gibt es immer mehrere Auffälligkeiten.» Sie haben Depressionen, sind eifersüchtig oder abhängig von Alkohol und Drogen. Oft gebe es Warnsignale vor der Tat: Die späteren Täter reden konkret über ihre Absichten und sprechen positiv über Gewalttaten. Oft lebte das Paar sozial abgeschottet.
Überlebende von solchen Bluttaten erleiden meist ein Trauma. Endrass: «Es ist sehr anspruchsvoll, ohne fachliche Hilfe weiterzuleben.»
Hilfe und Info:
Die Dargebotene Hand: Telefon 143
Polizei-Notruf: 117