Das Schicksal der Verdingkinder wurde von den Politikern erst in den letzten Jahren aufgearbeitet. Zu spät?
Für einige schon: Viele Betroffene sind schon sehr alt oder bereits verstorben. Es ist aber immerhin eine Anerkennung unseres Leids.
Weshalb stellen denn nur wenige Betroffene einen Antrag für einen Solidaritätsbeitrag?
Sie wollen sich nicht mehr mit diesem schlimmen Teil ihres Lebens beschäftigen.
Haben Sie einen Antrag gestellt?
Ja. Und ich helfe auch anderen, die sich nicht getrauen.
Weshalb?
Ich finde, es steht uns zu. Viele ehemalige Verdingkinder können das Geld gut gebrauchen. Sie hatten keine Möglichkeit für eine gute Schulbildung und arbeiteten deshalb oft in schlecht bezahlten Berufen. Häufig leiden sie auch noch immer körperlich unter den Folgen der Kindheit, das kostet – und oft nicht gerade wenig.
Wie meinen Sie das?
Kürzlich hat mir ein ehemaliger Verdingbub gesagt, mit dem Beitrag könne er sich endlich neue Zähne leisten.
Leiden auch Sie körperlich?
Meine Zähne waren ebenfalls sehr schlecht – meine erste Zahnbürste erhielt ich mit 12. Deshalb trage ich seit 15 Jahren Zahnimplantate. Auch das schwere Tragen hinterliess Spuren: Meinen Rücken musste ich drei Mal operieren lassen.
Wie hat Sie Ihre Kindheit im Wesen geprägt?
Ich hatte keine festen Beziehungen. Es fällt mir deshalb noch immer schwer, jemandem zu vertrauen. Spannungen halte ich kaum aus. Ich gehe dann und will alleine sein.
Wie lernten Sie, mit Ihrem Schicksal umzugehen?
Lange verdrängte ich alles. Als ich 40 war, nahm sich mein älterer Bruder das Leben – wie zuvor meine ältere Schwester. Sie konnten ihre Vergangenheit als Verdingkind nicht bewältigen. Da merkte ich, dass ich etwas ändern muss. Vor fünf Jahren brachte sich auch mein zweiter Bruder um.
Hatten Sie Suizidgedanken?
Nein, die hatte ich nie. Ich weiss nicht, weshalb, aber ich spürte immer einen Lebenswillen.
Ihr Leidensweg begann als 2-Jährige. Was ist passiert?
Meine Mutter starb bei der Geburt ihres achten Kindes. Mein Vater lernte eine neue Frau kennen – sie wurde unsere Stiefmutter. Sie schlug und quälte meine Geschwister und mich. Sie gab uns zum Beispiel sehr wenig und oft auch verdorbenes Essen. Eines Tages, ich war in der ersten Klasse, liefen meine Geschwister und ich nach der Schule weg. Die Polizei fand uns schnell und wir wurden alle verdingt – ich kam in eine Sägerei.
Wie war es dort?
Meine Pflegeeltern schlugen mich zwar nicht, aber sie kümmerten sich nicht um mich. Ich musste den Arbeitern Znüni bringen und den Haushalt erledigen. Immer häufiger versteckte ich mich: Die Arbeiter machten sich lustig über mich, und ich hatte Angst vor den lauten Sägemaschinen. Ich fühlte mich sehr unwohl. Da wollten mich die Pflegeeltern nicht mehr.
Wo wurden Sie hingebracht?
Für kurze Zeit zurück zu meinem Vater.
Weshalb blieben Sie nicht bei ihm?
Wegen meiner Stiefmutter. Sie ging zu den Behörden und wollte mich in eine psychiatrische Klinik bringen. Zum Glück setzte sich ein Arzt für mich ein. Er schlug ein Kinderheim für mich vor. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.
In der Psychotherapie spielte Ihre Stiefmutter eine grosse Rolle. Half Ihnen die Therapie?
Ich trug viel Wut in mir – vor allem gegen meine Stiefmutter. In der ersten Sitzung gab mir der Therapeut einen Tennisschläger. Damit sollte ich auf einen Sitzsack schlagen und die Wut rauslassen. Ich schlug, weinte und schrie. Es war sehr befreiend. Während zehn Jahren ging ich in die Therapie.
Sahen Sie Ihre Stiefmutter als Erwachsene nochmals?
Ja. Zum letzten Mal an der Beerdigung meines Vaters 1985.
Wie war das?
Ich konnte ihren Anblick kaum ertragen. Ich sprach nicht mit ihr. Sie ist mittlerweile verstorben.
Mit 12 Jahren wurden Sie erneut verdingt. Weshalb?
Ich konnte im Kinderheim nur die Primarschule besuchen. Ich wollte aber auch in die Sekundarschule wie mein grosser Bruder. Das war nur bei einer Pflegefamilie möglich.
Wie war die neue Pflegefamilie?
Schrecklich. Ich musste sehr viel arbeiten und der Pflegevater misshandelte mich sexuell.
Und die Pflegemutter?
Sie war depressiv. Sie lag oft den ganzen Tag auf der Bank des Kachelofens mit einem feuchten Lappen über den Augen. Fast jeden Tag musste ich für sie Schmerztabletten kaufen.
Mit 17 Jahren lieferte man Sie in eine psychiatrische Klinik ein. Wie kam es dazu?
Meine Schwester hatte sich das Leben genommen. Obwohl wir keinen engen Kontakt hatten, war das für mich sehr schlimm. Ich absolvierte damals eine Lehre in einer Postfiliale in Basel. Während der Arbeit musste ich natürlich funktionieren, aber abends weinte ich in meinem Zimmer bei der Schlummermutter. Jemand rief wohl deswegen die Ambulanz: Eines Tages kamen Sanitäter, zurrten mich auf einer Bahre fest und brachten mich ungehend in eine psychiatrische Klinik in der Ostschweiz.
Erhielten Sie dort eine Therapie?
Nein. Wogegen denn? Das Schlimmste in der Klinik war der Schlafsaal: Mit 20 anderen Frauen schlief ich in einem Raum. Einige von ihnen schrien in der Nacht oder liefen nackt herum. Ich hatte so etwas zuvor noch nie gesehen.
Was machte man dort denn sonst mit Ihnen?
Die Ärzte gaben mir Medikamente – unter anderem Butazolidin. Dieses Medikament gibt man heute Tieren, vor allem Pferden, gegen Entzündungen oder Schmerzen. Vor einigen Jahren fand ich Notizen dazu in meinen Akten.
Mit 55 Jahren machten Sie eine Ausbildung zur Clownin. Was war der Grund?
Das hilft mir, das Leben leichter zu nehmen.
Zur Person: Theresia Rohr
Die 72-Jährige ist glücklich verheiratet und wohnt in Rheinfelden. Sie hat zwei Kinder aus erster Ehe und
zwei Enkelkinder. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete Theresia Rohr als Atemtherapeutin. Vor zwei Monaten zog sie mit ihrem Mann ans andere Rheinufer – ins deutsche Rheinfelden.