Erst vor einem Monat schrieb der Gesundheitstipp über das Mittel Aduhelm. Medien hatten es emporgejubelt und von einem «Paukenschlag» in der Alzheimertherapie gesprochen. Dann folgte der Absturz: In den USA verkauft es der Hersteller Biogen nicht mehr. In der Schweiz zog er das Zulassungsgesuch zurück (Gesundheitstipp 9/2022).
Nun schüren Medien erneut Hoffnungen auf ein neues Mittel. Der «Tages-Anzeiger» schreibt am 29. September auf der Titelseite von einem «Durchbruch bei Alzheimer». Das neue Mittel heisst Lecanemab. Der Hersteller ist wiederum Biogen, zusammen mit dem japanischen Partner Eisai. Auch das Prinzip ist dasselbe: Beide Mittel sind Antikörper. Sie richten sich gegen ein bestimmtes Eiweiss, das sich im Gehirn von Alzheimerpatienten ablagert.
Höchstens ein minimaler Erfolg
Der Verband Alzheimer Schweiz stimmt in die Euphorie ein: «Neuer Hoffnungsträger gegen Alzheimer», schreibt er auf seiner Website. Und sogar Fachleute geben sich begeistert: Adriano Aguzzi, Direktor des Instituts für Neuropathologie des Universitätsspitals Zürich, sagt im Artikel des «Tages-Anzeigers»: «Das ist eine tolle Nachricht.»
Unabhängige Fachleute äussern sich hingegen nüchtern. Etzel Gysling, Arzt und Herausgeber der Zeitschrift «Pharma-Kritik», sagt: «Es sind noch sehr viele Fragen offen.» Bisher hat Biogen nur in einer Medienmitteilung behauptet, eine Studie sei erfolgreich verlaufen. Sie ist aber noch nicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen. Der Basler Arzt Urspeter Masche sagt: «Solange die Studie nicht publiziert ist, bleibt es schwierig, zu entscheiden, ob die Hoffnungen berechtigt sind.»
Zum Beispiel ist nicht bekannt, wie krank die Studienteilnehmer waren. Und laut Angaben von Biogen verbesserte das Mittel die geistigen Fähigkeiten der Studienteilnehmer um 0,45 Punkte auf einer Skala von 18 Punkten. Gysling: «Bisher galt eine Verbesserung von mindestens 0,5 bis 1,0 Punkten als Erfolg.» Lecanemab scheint also das Fortschreiten der Krankheit nur schwach zu bremsen. Unbekannt ist, wie das Mittel langfristig wirkt. Die Studie dauerte nur 18 Monate.
Interessant: Unmittelbar nach Erscheinen der Medienmitteilung sprang der Börsenkurs von Biogen um 40 Prozent in die Höhe. Gysling kommentiert: «Es scheint in erster Linie darum zu gehen, die Industrie in besserem Licht darzustellen und die Aktienkurse vorteilhaft zu beeinflussen.» Eisai schreibt, man sei «vorsichtig optimistisch», dass Lecanemab den Betroffenen helfe, habe aber derzeit auch keine weiteren Daten aus der Studie. Zum Aktienkurs äussern sich weder Biogen noch Eisai.