Zwischen Wiesen und Hügeln windet sich die Strasse vom Städtchen Wiedlisbach BE den Hang hinauf. Im Nebel tauchen die Häuser des Demenzdorfes auf, rund einen Kilometer von Wiedlisbach entfernt. Die Pflegeheimgruppe Dahlia Oberaargau nennt die Siedlung «Juradorf». Seit April 2022 leben dort 95 Bewohner. Wie in einem richtigen Dorf läutet zur vollen Stunde eine Glocke. Das Demenzdorf will das Bild eines gemütlichen, normalen Alltags vermitteln. Doch Besucher und Bewohner kommen nur durch eine Schleuse mit zwei automatischen Schiebetüren hinein.
Der Mittelpunkt ist der «Dorfplatz» mit einem steinernen Brunnen. Dort befindet sich auch der «Dorfladen», in dem die Bewohner Lebensmittel einkaufen können – für die Mahlzeiten, die sie nach Vorgaben des Personals zubereiten. Allerdings erstellt der Koch des Restaurants den Menüplan. Er bestellt die Lebensmittel, welche die Bewohner anschliessend im Dorfladen abholen können. Hinter den Wohnhäusern liegt ein «Flaniergarten» mit geschwungenen Spazierwegen.
Künstliche Zugabteile und Bushaltestellen
Es gibt immer mehr Demenzdörfer wie das «Juradorf», vor allem in Deutschland und in den Niederlanden. Einige Demenzdörfer stellen auf ihrem Areal künstliche Bushaltestellen auf. Dort fährt zwar nie ein Bus los, aber die Haltestelle soll Bewohner mit Bewegungsdrang davon abhalten, das Areal zu verlassen. Das Heim Bethlehemacker in Bern hat sogar ein künstliches Zugabteil nachgebaut («Saldo» 8/2015).
Karin Moser ist Geschäftsleiterin von Dahlia Oberaargau. Sie sagt, im «Juradorf» könnten Bewohner ihren Bewegungsdrang ausleben und gleichzeitig sei ihr Schutz gewährleistet. Eine Studie von portu-giesischen Psychiatern kam vor drei Jahren zum Schluss, Bewohner von Demenzdörfern seien ruhiger und würden weniger Medikamente benötigen als Pflegeheimbewohner.
Fachleute bezweifeln das. Der Demenzexperte Michael Schmieder aus Wetzikon ZH sagt, Demenzdörfer wie das «Juradorf» würden den Bewohnern eine Scheinrealität vorgaukeln: «Es ist nun mal nicht ein Dorf, sondern ein Pflegeheim.» Die Bezeichnung «Dorf» könne zur Folge haben, dass andere Heime als minderwertig betrachtet würden, obwohl das nicht der Fall sei. Falls der Verbrauch von Medikamenten in solchen Siedlungen tatsächlich niedriger sei, ha-be das nichts mit dem Dorfcharakter zu tun, sondern mit der Zuwendung, welche die Bewohner bekommen.
«Eine in sich geschlossene Parallelwelt»
Der deutsche Demenzfachmann Peter Wissmann kritisiert, Demenzdörfer seien «Ghettos» am Stadtrand, «eine in sich geschlossene Parallelwelt». Damit schiebe man Demenzkranke ab und grenze sie aus der Gesellschaft aus. In seinem Buch «Nebelwelten» schreibt Wissmann, der Bau von künstlichen Dörfern stehe im Widerspruch zur Behindertenrechtskonvention der UNO. Diese verlange, dass alle Behinderten an der Gesellschaft teilhaben können. Das gelte auch für Demenzpatienten.
Das sieht Irene Leu ähnlich. Sie leitete in Basel 18 Jahre lang eine Tagesstätte. Leu würde es bevorzugen, wenn Demenzkranke in einem bestehenden Dorf oder Stadtquartier leben könnten: «Diese Menschen sind Teil unserer Gesellschaft, wir sollten sie nicht ausserhalb unterbringen.» Peter Wissmann sagt, es brauche keinen «Pseudoladen», wenn es in 300 Meter Entfernung echte Lebensmittelläden gebe. Solche Scheinwelten könnten Patienten mit Demenz verunsichern: Diese reagierten auf das Vorgaukeln von Tatsachen sensibler als andere Personen.
Die Sonnweid in Wetzikon ZH zeigt, dass es anders geht. Zwar ist auch dieses Heim eingezäunt. Aber der langjährige Leiter Michael Schmieder verzichtete auf künstliche Kulissen. Stattdessen liess er ins Haus eine grosse, runde Rampe einbauen, auf der die Bewohner ihren Bewegungsdrang ausleben können. Grosse Fenster ermöglichen einen grosszügigen Ausblick. Zudem platzierte Schmieder die Büros des Personals absichtlich zwischen die Zimmer der Bewohner, um die gegenseitigen Kontakte zu intensivieren. Für das Wohlbefinden der Demenzkranken sei es entscheidend, dass sie gute Beziehungen zum Personal und zu den Angehörigen pflegen könnten, sagt Schmieder.
Zur Kritik der Experten sagt Karin Moser von Dahlia Oberaargau, das «Juradorf» gaukle den Bewohnern nichts vor: «Sie können im Dorfladen wirklich einkaufen.» Zwar sei das Sortiment weniger gross als in der Coop-Filiale von Wiedlisbach, aber es passe zur Grösse des «Juradorfs». Die Bewohner seien geistig nicht in der Lage, den Umfang des Angebotes wahrzunehmen. Das Einkaufen schaffe ein schönes Erlebnis, das Bewohner an vergangene Momente in ihrem Leben erinnere.
So finden Sie ein gutes Heim
- Suchen Sie frühzeitig ein passendes Heim. Denn manche Pflegeheime haben lange Wartelisten.
- Schauen Sie bei der Suche mehrere Heime an. Sprechen Sie jeweils mit der Pflegedienstleiterin über die benötigte Betreuung.
- Holen Sie Referenzen ein bei Bewohnern, Angehörigen oder Bekannten.
- Eine Liste von Heimen finden Sie auf Heiminfo.ch. Einen Leitfaden zum Heimeintritt gibt es auf Alzheimer-schweiz.ch > Über Demenz > Den Heimeintritt vorbereiten.
Buchtipp
Im Gesundheitstipp-Ratgeber Besser leben im Alter finden Sie viele Anregungen, wie man im Alter gesund und aktiv bleiben kann – ob zu Hause oder in einem Heim.