Renate Greinert hat Christians Lieblingsessen gekocht: Poulet mit Reis. Doch der 15-Jährige verspätet sich. Er ist mit dem Velo unterwegs. Das Essen wird langsam kalt, die Mutter ärgerlich. Endlich klingelt es an der Tür. Doch statt Christian steht ein Polizist vor der Tür. «Ihr Sohn wird gerade mit dem Helikopter ins Spital geflogen. Er hat schwere Kopfverletzungen.» Kälte breitet sich in ihr aus. Die Welt bleibt stehen.
Christian liegt auf der Intensivstation. Renate Greinert erinnert sich: «Er lag im Bett, rings um ihn Geräte, er wurde beatmet.» Sie berührt seinen Arm, die Haut ist warm. Doch bald zerschlägt sich jede Hoffnung: Christian hat ein schweres Schädelhirntrauma. Der Arzt sagt, er sei tot. Ob eine Organspende infrage komme? Christian sei doch sicher ein sozialer Typ gewesen. Nun könne er anderen helfen. Im Schock sagen die Eltern zu. «Mir war nicht bewusst, dass ich meinen Sohn zur grössten Operation seines Lebens freigegeben ha-be», sagt Renate Greinert.
Das realisiert sie erst, als sie ihn vor der Beerdigung noch einmal sieht: «Seine Augen fehlten, ein Schnitt zog sich von der Kinnspitze bis weit hinunter, Kanülen steckten noch in Armen und Händen.» Sie habe gedacht: «Was hat man dir angetan? Wozu habe ich nur Ja gesagt!» Das beschäftigt sie jeden Tag.
Wie Renate Greinert geht es vielen Menschen: Ihnen ist nicht bewusst, was eine Organentnahme für den sterbenden Patienten bedeutet. Doch die Richtlinien von Swisstransplant und viele Fachleute sprechen eine klare Sprache: Es handelt sich um eine grosse Operation am Lebensende, die bis acht Stunden dauert. Die wichtigsten Stationen:
Das Feststellen des Hirntodes
Vor der Organentnahme liegt der sterbende Patient auf der Intensivstation, bewusstlos und künstlich beatmet. Ärzte müssen den Hirntod feststellen. Dafür reiben sie zum Beispiel mit einem Wattestab in den Augen oder spülen die Ohren mit Eiswasser. Reagiert der Patient nicht, gilt dies als Hinweis auf den Hirntod. Doch sein Herz schlägt noch, seine Haut ist warm und rosig. Der Körper heilt Wunden, reguliert die Temperatur und bekämpft Infektionen. Schwangere, die hirntot sind, können sogar noch ihr Kind austragen. Experten sagen daher: Der Patient sei noch nicht tot, wenn die Chirurgen Organe herausschneiden (Gesundheitstipp 11/2021). «Er ist am Sterben, und die Chirurgen beenden sein Leben durch die Entnahme der Organe», schreibt eine Gruppe von Ärzten und Pflegefachleuten um den Winterthurer Hausarzt Alois Beerli in der «Schweizerischen Ärztezeitung».
Das Abklären von Organempfängern
Zwischen Hirntod und Organentnahme dürfen drei Tage liegen. Der Sterbende liegt noch immer auf der Intensivstation, an Maschinen angeschlossen. Nun klären die Ärzte ab, wohin seine Organe kommen. Renato Lenherr, ärztlicher Leiter der interkantonalen Organspende am Universitätsspital Zürich, sagt: «Für jede Organgruppe reist ein spezialisiertes Team an, manchmal auch aus dem Ausland.» 15 bis 20 Ärzte und Pflegefachleute werden an ihm arbeiten: Anästhesisten, Operationspfleger, die Teams der Herz-, Lungen- und Bauchchirurgen. Sterbende bleiben auch noch an den Maschinen, wenn der Empfänger, der manchmal im Ausland lebt, noch nicht genügend vorbereitet ist. Oder wenn sich das Flugzeug eines Chirurgenteams verspätet.
Ärzte machen mit dem Spender weitere Tests: Sie erstellen Blutbilder, messen den Blutzucker, betrachten die Organe im Ultraschall, machen Röntgenbilder und untersuchen ihn im Computertomografen. Zudem testen sie ihn auf Geschlechtskrankheiten. Bleibt das Herz in dieser Phase stehen, bringen es die Ärzte wieder zum Schlagen.
Hausarzt Beerli kritisiert das: «Es geht nicht mehr um das Wohl des Sterbenden, sondern nur noch um den Erhalt der Organe.»
Die Entnahme der einzelnen Organe
Jetzt sind die Chirurgen bereit. Die Familie muss sich vom Patienten verabschieden. Das Personal bringt ihn von der Intensivstation in den OP-Saal. Dort erhält er eine Narkose, damit er sich nicht bewegen kann. Sonst kann es zu Reflexen wie dem sogenannten Lazarus-Effekt kommen, bei dem der Hirntote Arme oder Beine bewegt oder sich sogar aufrichtet. Intensivmediziner Reto Stocker vom Hirslanden-Spital sagt: «Das kann das Team im Operationssaal erschrecken, das chirurgische Vorgehen erschweren und auch die Organe gefährden.» Der Hirntote bekommt Medikamente, etwa Blutdrucksenker, bei Herzversagen sogar Adrenalin.
Mit einer Operationssäge sägt der Bauchchirurg das Brustbein durch und spreizt die Bauchdecke auf. Er legt die Organe frei und setzt Kanülen in die Blutgefässe der Organe. Dann klemmt der Chirurg die Hauptschlagader ab. Er spült eine kalte Konservierungslösung in die Blutbahn und saugt das Blut ab. So unterdrückt man alle Stoffwechselvorgänge der Organe, erklärt Stocker. Die Lösung lähmt das Herz. Es bleibt stehen. Gleichzeitig verteilen Chirurgen steriles, zerkleinertes Eis in den Körperhöhlen. Es kühlt die Organe von aussen.
Arzt Beerli sagt: «Erst jetzt sind die Patienten biologisch tot. Sie sterben nicht im Kreis der Familie, sondern im Operationssaal, umgeben von Maschinen und Technik.»
Das Herzteam entnimmt das Herz. Dann kommt das Lungenteam zum Einsatz. Es folgen Leber, Bauchspeicheldrüse, Nieren und am Ende Gewebe wie Augenhornhaut, Knochen, Knorpel und Sehnen. Die Chirurgen verlassen den Operationssaal mit Kühltaschen, in denen sich die Organe befinden. Die Lunge und die Leber teilen die Chirurgen manchmal zuerst noch auf.
Am Schluss näht man den Körper wieder zu. Das Personal entfernt die Kanülen, verbindet die Wunden, wäscht den Toten und bedeckt ihn mit einem frischen Hemd oder einem Tuch. Dann fährt es die Leiche in die Leichenhalle.
Die Stiftung Swisstransplant sagt, der komplette, irreversible Ausfall aller Hirnfunktionen sei als entscheidendes Todeskriterium weltweit anerkannt. Zwei Nervenärzte, die vom Spendeprozess unabhängig sind, würden die Diagnose gemeinsam stellen. Mit der Organspende entspreche man dem Willen des Patienten, anderen Schwerstkranken zu helfen. Die Entnahme sei keine Notfalloperation und werde daher normal ins Operationsprogramm eingeplant. Angehörige hätten oft mehr Zeit für den Abschied als bei Patienten, die unter palliativer Therapie auf der Intensivstation sterben.
Abstimmung vom 15. Mai 2022: Darum gehts
Am 15. Mai stimmt die Schweiz über eine Änderung des Transplantationsgesetz ab. Heute gilt: Eine Organentnahme setzt die Einwilligung des Patienten oder der Angehörigen voraus. Bundesrat und Parlament wollen das ändern: Alle sollen Organspender werden, ausser man hat ausdrücklich widersprochen (Widerspruchslösung). Wer am 15. Mai Nein stimmt, sagt Nein zur Widerspruchslösung.