Der heute 64-jährige Hans-Rudolf Rohrbach wuchs als ältestes von drei Kindern auf. «Meine Eltern erzogen mich strenger als meine Brüder», erinnert er sich. Schon als Kind musste er für seine jüngeren Geschwister Verantwortung übernehmen: «Ich war dafür zuständig, dass wir die Arbeiten korrekt erledigten, welche die Eltern uns auftrugen.»
Die 58-jährige Elisabeth Ottiger verbrachte ihre Kindheit in einer grossen Familie – mit drei älteren und drei jüngeren Geschwistern: «Ich war in der Sandwichposition.» Das sei nicht einfach gewesen: «Meine Mutter sprach selten mit mir, weil sie wegen der vielen Kinder so viel Arbeit hatte. Um nicht unterzugehen, musste ich um Aufmerksamkeit kämpfen.»
Isabelle Betschart (Name geändert) ist die Jüngere von zwei Geschwistern. Sie wuchs mit ihrem älteren Bruder auf einem Bauernhof auf. «Meine Eltern sahen meinen Bruder als Nachfolger des Vaters vor, für mich blieb nur die Rolle der Hausfrau.» Die Eltern schenkten den Hof schliesslich ihrem Bruder. Sie ging leer aus. Das stimmt sie bis heute bitter.
Die Beispiele zeigen: Die Geschwisterposition ist nicht zu unterschätzen. Sie wirkt sich auf das Zusammenleben in der Familie aus, prägt die Identität und die Psyche eines Menschen aber auch im Erwachsenenalter. Der Psychologe Jürg Frick aus Uerikon ZH hat die Rolle von Geschwistern und ihre Bedeutung für das spätere Leben eingehend untersucht. Das sind Fricks wichtigste Erkenntnisse:
Erstgeborene: Dominant – und unter Druck
Sie haben gegenüber ihren jüngeren Geschwistern oft eine dominante Rolle. Daraus ergibt sich ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl – besonders wenn der Altersabstand zwischen Geschwistern relativ gross ist. Eine Studie des Psychologen Frank Sulloway von der University of California (USA) mit über 6000 Teilnehmern aus Amerika, Kanada und Deutschland bestätigt das. Auf dem ältesten Kind lastet zudem oft der Druck der Eltern. Diese schenken ihrem Erstgeborenen nicht nur die grösste Aufmerksamkeit, sondern stellen oft auch hohe Erwartungen an ihn. Erstgeborene sind daher oft perfektionistisch und ehrgeizig. Doch diesem Druck ist nicht jeder gewachsen. Zudem: Kommt ein weiteres Kind zur Welt, droht der Sturz vom Thron. Das kann zu einer Krise führen, gar zu einem Trauma, von dem sich manche Erstgeborene nur schwer erholen.
Sandwichkinder: Oft kompromissfähig
Sie versuchen zuerst, ihren älteren Geschwistern nachzueifern. Manche profitieren von der Sandwichrolle: Sie lernen von den Älteren und sind gleichzeitig Vorbilder für jüngere Geschwister. Diese Doppelrolle verhilft manchen zu einer guten Kompromissfähigkeit. Auch in Frank Sulloways Studie gaben Sandwichkinder häufig an, sie seien umgänglich und offen für neue Erfahrungen. Allerdings berichten viele Sandwichkinder, ihre Bedürfnisse seien zu kurz gekommen.
Jüngste Kinder: Gefühl der Minderwertigkeit
Sie haben zwar den Charme des «Herzigen» und werden deshalb in der Familie oft verwöhnt. Sie vermissen aber die Anerkennung. Manche leiden am Gefühl, unterlegen zu sein, entwickeln gar Minderwertigkeitsgefühle. Sie müssen in der Regel weniger Verantwortung übernehmen als ältere Geschwister, gehen in der Familie aber manchmal unter.
Die eigene Position in der Familie wird man auch als Erwachsener nie ganz los. Der Berner Psychotherapeut Klaus Heer sagt: «Wir bleiben immer die Menschen, als die wir in unserer Familie angekommen und gross geworden sind.» Laut dem Psychologen Jürg Frick können andere Faktoren den Einfluss der Geschwisterrollen abschwächen oder verstärken. «Alles hängt mit allem zusammen», sagt Frick. Wichtig sei zum Beispiel das Verhalten der Eltern: Wenn sie eines ihrer Kinder bevorzugen, fördern sie die Rivalität unter den Geschwistern. Auch bei einem kleinen Altersunterschied kann die Konkurrenz zwischen den Brüdern und Schwestern wachsen. Erziehen die Eltern ihre Kinder sehr autoritär und streng, zeigen diese laut Jürg Frick überdurchschnittlich oft ein aggressives, gewalttätiges Verhalten.
«Eigene Geschwisterrolle verstehen lernen»
Eine gute Beziehung zu den Geschwistern helfe auch im Erwachsenenalter, sagt Jürg Frick. Ein belastetes Verhältnis könne hingegen die Entwicklung der Geschwister behindern, für lang anhaltende Konflikte sorgen und die Familie destabilisieren. Negative Auswirkungen sind laut Frick noch lange nach der Jugendzeit spürbar. Unverarbeitete Konflikte mit den Geschwistern könnten auch im Beruf oder in Liebesbeziehungen Probleme verursachen. Deshalb lohne es sich, sich über die Rolle klar zu werden, die man als Kind in der Familie hatte. Allenfalls könne die Unterstützung durch einen Psychologen helfen. Fricks Rat: Geschwister sollten versuchen, die gemeinsame Familiengeschichte vorurteilsfrei und offen zu verstehen und neu zu interpretieren. Im Fall eines unverarbeiteten Konflikts sei eine Versöhnung oft erst möglich, wenn man die eigene Geschichte erkannt und verstanden habe. Jürg Frick rät zudem zum persönlichen Gespräch: «Versuchen Sie, Ihre Geschwister freundlich und wohlwollend mit dem Thema zu konfrontieren.» Dabei solle man ihnen keine Vorwürfe machen und kein Schuldeingeständnis erwarten. Zudem sollte man nicht verzweifeln, wenn die Bemühungen ins Leere laufen. Denn, so erklärt Psychotherapeut Klaus Heer: «Man braucht nicht unbedingt eine lauschige Beziehung zu den Geschwistern, um als erwachsener Mensch gut zu leben.»
Buchtipp
Jürg Frick, «Ich mag dich – du nervst mich. Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben», Hogrefe Verlag, ca. Fr. 42.–
Aufruf: Welche Geschwisterrolle haben Sie?
Schreiben Sie uns: Redaktion Gesundheitstipp, «Geschwister», Postfach, 8024 Zürich, redaktion@gesundheitstipp.ch
Erstgeborener
Erstgeborener
Hans-Rudolf Rohrbach (64), Schliern BE
«Ich bin der Älteste von drei Brüdern. Ich war ihnen in allen Dingen voraus. Meine Eltern machten mich verantwortlich dafür, dass wir die Arbeiten, die sie uns auftrugen, korrekt erledigten. Diese Rolle habe ich noch heute. Ich zog ins Elternhaus und übernahm die Pflege unserer betagten Eltern. Ich bin überzeugt, dass sich dies aus der Familienkonstellation ergeben hat. Meine Brüder wollten die Pflege nicht übernehmen, denn sie haben selber Kinder.»
Sandwichkind
Elisabeth Ottiger (58), Schwarzenberg LU
«Ich war in der Sandwichposition zwischen drei älteren und drei jüngeren Geschwistern. Ich musste mich gegen oben und unten wehren. Um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten, nahm ich den Geschwistern kleine Gegenstände weg. Oft war ich das ‹schwarze Schaf› der Familie. Wenn etwas passierte, hiess es: Das war sicher Elisabeth. Doch ich möchte meine Rolle nicht missen. Denn sie hat mich stark gemacht. Meine älteste Schwester sagte mir: Du bist die Einzige von uns, die sich wehren konnte.»
Jüngstes Kind
E. H. (69), Vitznau LU
«Mein Bruder ist ein Jahr älter als ich. Wir wuchsen auf einem Bauernhof auf. Er war als Nachfolger des Vaters vorgesehen, ich für die Rolle einer Hausfrau. Das gab mir das Gefühl, ich sei weniger wert. Ich reagierte darauf mit Magersucht und Bulimie. Später schenkten die Eltern dem Bruder den Hof, obwohl er den Betrieb nicht selber weiterführte. Das finde ich unfair. Dem Frieden zuliebe kämpfte ich nicht für mein Recht. Zu meinem Bruder habe ich keinen Kontakt mehr.»
Tipps: Das können Eltern tun
- Bereiten Sie das erste Kind auf die Geburt eines jüngeren Geschwisters vor. Zeigen Sie ihm, dass Sie es immer noch gleich gern haben.
- Erklären Sie Ihren Kindern, warum Sie nicht auf alle genau gleich eingehen können.
- Finden Sie heraus, welches die Stärken der Kinder sind, und zeigen Sie allen gleichermassen, dass Sie stolz auf sie sind.
- Messen Sie kleinere Kinder nicht an den Erfolgen der älteren Geschwister.
- Ein gewisses Mass an Rivalität ist normal. Greifen Sie nur ein, wenn sich Ihre Kinder gegenseitig oft unfair behandeln.
- Lassen Sie nicht zu, dass ein Kind die anderen dominiert.