Ein Gesunder ist nur falsch untersucht», lautet ein beliebter Spruch unter Medizinern. Was witzig gemeint ist, wird mehr und mehr Realität: Die Definition für einige Krankheiten ist mittlerweile derart weit gefasst, dass es bald schwierig wird, noch Gesunde zu finden. Mit vereinten Kräften drehen Pharmafirmen und Ärztegesellschaften an der Krankheitsschraube. Besonders lukrativ ist dies bei verbreiteten Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und zu hohem Cholesterin - alle drei erhöhen das Herzinfarktrisiko.
Grenzwert gesenkt: Doppelt so viele potenzielle Patienten
Nicht behandelter Diabetes kann zudem zu Blindheit, Nierenversagen oder Amputationen führen. Dieses Risiko ist umso grösser, je höher der Zuckergehalt im Blut ist. Ein hoher Blutzuckerwert bedeutet, dass der Körper zu wenig Insulin freisetzt oder es nicht richtig verwerten kann. Bis vor kurzem galt in den USA als Diabetiker, wer nüchtern einen Blutzuckerwert von mindestens 7 aufwies. Dann hat die amerikanische Diabetes-Gesellschaft den Begriff Frühdiabetes geprägt und dafür den Grenzwert auf 5,6 festgelegt (siehe Tabelle Seite 18). Folge: Die Zahl der potenziellen Patienten hat sich verdoppelt.
«Die Pharmaindustrie nimmt solche Neuerungen dankbar auf, um ihre Medikamente möglichst früh unter die Patienten zu bringen», sagt Pulstipp-Arzt Thomas Walser. «Früher oder später werden US-Richtlinien meist auch bei uns übernommen.»
Pharmafirma unterstützt Beratungstelefon für Ärzte
Ihre Ideen verbreitet die Pharmaindustrie zum einen über Fachzeitschriften, die von Inseraten abhängig und so weniger kritisch sind. Zum anderen lädt sie Fachleute, die ihre Ansichten teilen, an Veranstaltungen ein.
So brachte die deutsche «Ärzte-Zeitung» kürzlich eine Artikelserie zu Diabetes und richtete ein Beratungstelefon für Ärzte ein. Dieses wurde von der Pharmafirma GlaxoSmithKline unterstützt. Ein Artikel, der die Antworten der Spezialisten zusammenfasst, trägt den Titel «Für dicke Diabetiker ist Glitazon-Therapie günstig». Im Text empfiehlt ein Arzt das Glitazon-Medikament Avandia. Herstellerin: GlaxoSmithKline.
In der Schweiz bekommen manche Patienten auch ohne die neuen US-Richtlinien vorschnell Medikamente. Ein Beispiel ist C.B., 30. Vor sieben Jahren erhielt sie die Diagnose Diabetes - und bald darauf auch Medikamente. «Der Arzt sagte zwar, ich solle aufpassen, was ich esse, gab mir aber keine konkreten Anweisungen», sagt die Zürcherin. Durch die Medikamente nahm sie stark zu. Der Blutzucker ging aber nicht zurück. Im Gegenteil: «Ich musste immer mehr Mittel nehmen, und schliesslich meinte mein damaliger Arzt, ich müsste bald Insulin spritzen.»
Dabei hilft oft schon ein gesunder Lebensstil. Medikamente braucht es dann nicht. Das betont auch Arthur Teuscher, Professor am Diabeteszentrum Lindenhof in Bern: «Viele bekommen ihren Diabetes in den Griff, wenn sie sich regelmässig körperlich betätigen und ihre Essgewohnheiten ändern.»
Das realisierte C. B. vor einem Jahr, als sie eine Ernährungskur machte: «Seither komme ich ohne Medikamente aus.» B. lässt sich alle paar Monate von ihrer Ärztin kontrollieren, achtet darauf, was sie isst, und bewegt sich viel.
«Blutzuckerwert 8 ist noch kein Grund für Medikamente»
Zwar steht auch in den Schweizer Richtlinien unter anderem: «Jede Therapie beginnt mit einem ernsthaften Versuch zur Optimierung der Lebensgewohnheiten.» Gleichzeitig aber empfehlen die Fachärzte ab einem Glukosewert 8 eine Behandlung. Das schliesst Medikamente nicht aus. Zu früh, sagt Spezialist Teuscher. «Ein Blutzuckerwert von 8 ist noch kein Grund für Medikamente.» Zuerst solle der Arzt den Patienten anhalten, gesünder zu leben - das sei die beste Vorsorge gegen Diabetes.
Diabetes ist nur ein Beispiel, wie die Medikamentenindustrie dank tiefer angesetzten Grenzwerten eine neue Käuferschicht erschliesst. Das gleiche Muster zeigt sich beim Bluthochdruck. Die Schweizer Richtlinien empfehlen Medikamente ab einem Wert von 140/90. Gemäss US-Richtlinien sind dagegen Menschen mit einem oberen Blutdruck von 120 bereits im «Frühstadium». Über Nacht erhielten so 45 Millionen Amerikaner eine neue Diagnose.
Diese würde auch Konrad Hepenstrick aus Zürich treffen. Sein Blutdruck von 140/95 liegt gerade noch im Bereich des Schweizer Grenzwerts. Das war nicht immer so. «Früher hatte ich einen stark schwankenden Blutdruck - bis zu 200 auf 120, einmal hat der Arzt sogar 230 gemessen», erinnert sich der heute 50-Jährige.
Dank Medikamenten sank der Blutdruck zwar leicht, aber Hepenstrick litt an Schwindel, Durchfall und starker Verwirrung. «Manchmal verliess ich das Büro und wusste nach wenigen Schritten nicht mehr, wohin ich eigentlich wollte.» Schliesslich fand Hepenstrick die Ursache für den hohen Blutdruck: die Umweltkrankheit Multiple Chemikalien-Sensitivität, kurz MCS. Seit er Umweltgifte konsequent meidet, braucht er auch keine Blutdruckmedikamente mehr.
Die Krankmacher würden das wohl anders sehen. In einem Gastkommentar in der «Ärzte-Zeitung» hiess es kürzlich: Laut einer Studie erhöhe ein Schlaganfall das Risiko, im Alter an Demenz zu erkranken. Dies sei nicht endgültig belegt, aber «die vorhandenen Indizien erlauben nicht, auf harte Studiendaten zu warten, um noch stärker präventiv zu werden als bisher».
Da kommt es dem Autor, einem Chefarzt aus Trier, gelegen, dass die deutsche Bluthochdruckliga letztes Jahr neue Empfehlungen herausgegeben hat. Daraus geht hervor: Ärzte können zu hohen Blutdruck von Anfang an mit Medikamenten behandeln. Praktisch für Ärzte, die den Artikel lesen: Gleich daneben wirbt die Firma Hexal für blutdrucksenkende Medikamente.
Bluthochdruck: Chemiefirma betreut Patienten
Auch in der Schweiz mischt die Pharmaindustrie mit, wenn es um die «Volkskrankheit» Bluthochdruck geht. Aufschlussreich ist etwa der Internet-Auftritt der Schweizerischen Hypertonie-Gesellschaft, welche die Blutdruck-Richtlinien herausgibt. Gleich auf der Startseite findet sich Werbung für ein Forschungsstipendium des Pharmakonzerns AstraZeneca. Wer mit dem Sekretariat der Gesellschaft Kontakt aufnimmt, stellt fest: Betrieben wird es von der Basler Firma Roche. Gegenüber dem Pulstipp wollte die Hypertonie-Gesellschaft keine Stellung nehmen.
Drittes Beispiel: Cholesterin. Die wachsartige Substanz ist normaler Bestandteil des Körpers. Hat es im Blut jedoch zu viel davon, kann sich das Cholesterin in den Gefässen ablagern und zu Herzinfarkt führen. Hier kommt der Trend zu tieferen Grenzwerten aus Deutschland. Die Nationale Cholesterininitiative schlug dort die Marke 5,2 vor. Das private Ärztegremium, das der Pharmaindustrie nahe steht, konnte sich bei der deutschen Lipid-Liga durchsetzen und erreichte, dass eine Mehrheit der Deutschen zu Patienten wurde. Laut einer Studie an 100 000 Menschen in Bayern liegt nämlich der Durchschnittswert bei 6,8.
Cholesterin: «Empfehlungen sind zu wenig differenziert»
In der Schweiz fehlt eine ähnlich gross angelegte Studie. Eine Untersuchung mit 3300 Teilnehmern in den Kantonen Waadt und Freiburg ergab: Ein Durchschnittsschweizer hat Cholesterinwerte zwischen 6,1 und 6,4.
Bereits ab 6,5 sehen aber die Schweizer Richtlinien eine medikamentöse Behandlung vor, falls ein bis zwei weitere Risikofaktoren vorhanden sind. Dazu gehören Bewegungsmangel, Rauchen und starkes Übergewicht. «Diese Empfehlungen sind zu wenig differenziert», kritisiert Felix Huber von der Zürcher HMO-Praxis Medix. «Dadurch werden zu viele Patienten behandelt.»
Unnötige Kosten sind einer der Gründe, weshalb Ärzte warnen, vorschnell Medikamente zu verschreiben. Ein anderer: Nebenwirkungen. Johannes G. Schmidt, Allgemeinarzt und klinischer Epidemiologe vom Praxiszentrum Meinradsberg in Einsiedeln SZ, befasst sich seit Jahren mit dem Thema.
Schweiz überarbeitet Richtlinien für Cholesterin
«Gerade bei niedrigen Risiken schaden cholesterinsenkende Medikamente mehr, als sie nützen», sagt Schmidt und liefert ein Rechenbeispiel: «Nehmen wir an, 100 Patienten hätten ein Risiko von 3 Prozent, in den nächsten 10 Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden. Senkt ein Medikament das Risiko auf 2 Prozent, muss man die 100 während 10 Jahren behandeln, damit einer profitiert. Die 99 anderen haben einzig das Risiko von Nebenwirkungen.»
Das hat jetzt auch die Schweizerische Gesellschaft für Kardiologie gemerkt. Sie überarbeitet derzeit die Cholesterinrichtlinien. Neu sollen nicht mehr Grenzwerte im Zentrum stehen, sondern Gesamtrisikoprofile. Alter, Lebensstil und familiäres Risiko sind einige der Faktoren, die mit entscheidend sein sollen, ob Medikamente nötig sind.
Welche Rolle der Lebensstil spielen kann, zeigt Paul Haas, 68. Seit über 40 Jahren lebt er mit Diabetes. «Gleich zu Beginn wollten mir die Ärzte Spritzen geben, aber meine Frau sagte: Versuchen wir zuerst, die Sache mit der Ernährung in den Griff bekommen.» Und siehe da: Der Blutzucker sank auf ein normales Niveau. Zudem geht Haas mehrmals pro Woche schwimmen. Weiter pflegt er ein Hobby, das zwar nicht gesundheitsfördernd ist, ihm aber viel Lebensfreude gibt: Pro Jahr fährt er etwa 15 000 Kilometer auf seiner 750er Honda.
«Ich komme seit der Ernährungskur ohne Medis aus», C. B., Diabetikerin, musste starke Mittel nehmen
«Seit ich Umweltgifte konsequent meide, kann ich auf Blutdrucksenker verzichten», Konrad Hepenstrick, Blutdruckpatient
«Ernährung umgestellt - und der Blutzucker sank auf normale Werte», Paul Haas, Diabetiker