Früher war Heike Langenkamp ständig unter Leuten. Wenn in der Stadt etwas los war, musste sie dabei sein. «Ich war eine richtige Partymaus», sagt die Informatikerin. Und: Sie habe es vermieden, in der Freizeit alleine zu sein, sagt die 53-Jährige.
Auch die Zürcherin Alina Berger (Name geändert) schaute dem Weekend lange Zeit bang entgegen. «Musste ich an einem Samstagabend ohne Gesellschaft auf dem Sofa sitzen, gings mir schlecht», sagt die 60-Jährige. Sie habe sich ausgemalt, wie alle anderen glücklich zusammen seien. Nur sie sei allein.
Doch es ist nicht gesund, jede freie Minute unter Leuten zu sein. Daraus könne sich ein ungesunder «Kontaktrausch» entwickeln, warnen Fachleute. Jugendpsychologe Leo Gehrig z. B. beobachtet in seiner Praxis: «Viele Menschen haben verlernt, allein zu sein.» Sie reihen im Job einen Termin an den andern, beantworten ständig E-Mails und rennen von Party zu Party. Und Psychoanalytiker Rolf Haubl vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt (D) sagt: «Die Furcht vor dem Alleinsein ist krankhaft.» Es sei «alarmierend», wenn man es keine zwei Stunden ohne Mitmenschen aushalte.
Diese Furcht geht so weit, dass Menschen sogar bereit sind, sich Schmerzen zuzufügen, wenn man sie allein lässt. Das zeigen neue Experimente der Uni Virginia in Charlottesville (USA). Die Forscher setzten 150 Studierende 15 Minuten allein in ein Zimmer. Sie durften nichts mitnehmen, konnten sich jedoch selber Elektroschocks geben. Das Resultat erschreckt: 70 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen betätigten den Knopf. Sie sagten danach, sie hätten die eigenen Gedanken als unangenehm empfunden. Das beobachtet auch Rolf Haubl. Solche Menschen kämen ins Grübeln und hätten dann depressive Gedanken, zum Beispiel: «Niemand denkt an mich», sagt er.
Schon Kinder können Probleme haben
Bereits Kinder seien gefährdet, sagt Psychologe Gehrig. Er habe Jugendliche, die es nicht schafften, eine Stunde in ihrem Zimmer Hausaufgaben zu machen. Sie würden rastlos und bekämen schlechte Laune. Ständig surften sie im Internet oder holten etwas zu essen.
Die Flucht vor dem Alleinsein hat Konsequenzen. Betroffene haben öfters Bauch- und Gliederschmerzen, Herzprobleme und fühlen sich häufiger erschöpft. Dies belegt eine Studie der Universität Dresden (D) mit 490 Personen. Manche Menschen kriegten sogar ein Burnout, sagt Rolf Haubl. Denn wer ständig in Kontakt mit anderen ist, muss stets aufmerksam sein, um angemessen zu reagieren. So kommt man nie zur Ruhe.
Ausserdem leiden Schule oder Arbeit, das fanden Hirnforscher heraus. Denn Leute, die nie ungestört sind, werden vergesslicher und weniger kreativ, wie eine Übersichtsstudie der amerikanischen University of California aus dem Jahr 2012 zeigt. Grund: Das Hirn ist überfordert.
Die Forscher untersuchten die Hirnströme von Menschen bei verschiedenen Tätigkeiten. Resultat: Wenn eine Person spricht, E-Mails checkt oder SMS schreibt, sind diejenigen Hirnregionen aktiv, die auf äussere Reize reagieren. Doch erst wenn der Mensch tagträumt, aktiviert das Hirn diejenigen Regionen, die Erlebnisse verarbeiten können. Die Person spielt dann im Kopf Zukunftsszenarien durch und kommt so auf Lösungen, etwa für berufliche Herausforderungen und schulische Aufgaben, aber auch für Konflikte mit Partnern oder Freunden. Das ist der Grund, weshalb Leute die besten Ideen oft nicht dann haben, wenn sie bewusst nachdenken, sondern wenn sie spazieren gehen oder Zug fahren und ihren Gedanken freien Lauf lassen.
Erwachsene können das Alleinsein trainieren
Menschen, die schlecht allein sein können, haben später oft Probleme in ihren Beziehungen, wie Leo Gehrig beobachtet. Denn sie wollen jede einzelne Minute mit ihrem Partner verbringen. Dieser fühlt sich deswegen eingeengt und die Beziehung geht in die Brüche.
Ausserdem fehlt es den Betroffenen häufig an guten Freunden. «Es ist paradox», sagt Psychologe Gehrig. «Zwar rauschen sie von Bekanntschaft zu Bekanntschaft. Doch es fehlt ihnen die Ruhe, sich ernsthaft auf eine einzelne Person einzulassen. Die Freundschaften bleiben oberflächlich.»
Die gute Nachricht: Eltern können ihre Kinder im Alleinsein fördern. «Eigentlich ist das ein natürliches Bedürfnis», so Gehrig. Schon zehn Monate alte Babys plaudern mit sich selber. Und Kleinkinder sitzen allein im Sandkasten und lassen Sand durch die Hand rieseln. Dabei sind sie vergnügt, vorausgesetzt, sie wissen, dass die Eltern in Rufnähe sind. Gehrig empfiehlt Eltern deshalb, Kinder in Ruhe spielen zu lassen. «So lernen sie, allein zu sein, ohne sich einsam zu fühlen.»
Auch Erwachsene können das Alleinsein trainieren. Ein gutes Beispiel ist Heike Langenkamp. Heute lebt sie allein im Wald. «Es gibt nichts Schöneres, als allein im Wald zu spazieren», sagt sie. Auch Alina Berger hat sich gezwungen, das Alleinsein auszuhalten: Irgendwann sei ihr bewusst geworden, wie viele langweilige Abende sie mit unsympathischen Leuten verbracht hatte, nur, um nicht allein zu sein. Da habe sie realisiert: «Ich selber bin mir manchmal die angenehmere Gesellschaft.» Mit der Zeit seien die depressiven Gefühle beim Alleinsein verschwunden. Ebenso die Angst vor Samstagabenden zu Hause. «Jetzt freue ich mich darauf», sagt Berger. Sie zünde eine Kerze an, koche sich etwas Feines und lese.
Christina Ferretti (52), Schafhirtin aus dem Engadin,lebt im Sommer jeweils sechs Monate lang allein auf einer Alp
«Nach einem anstrengenden Tag finde ich es herrlich, allein vor der Hütte einen Kaffee zu trinken. Mir wäre es zu viel, den engen Raum einen ganzen Sommer lang mit anderen zu teilen und jeden Arbeitsschritt abzusprechen. Manchmal habe ich aber schon Tiefs und sehne mich danach, mit jemandem zu reden. Dann lenke ich mich mit Lesen ab.»
Sarah Althaus (30), Bloggerin, Konolfingen BE, ist seit zehn Monaten allein auf Weltreise
«Ich reise alleine, weil ich so lerne, in mich hineinzuhören.
Dann muss ich selber wissen, wo ich hingehen und was ich unternehmen will. Ausserdem lese ich gerne oder schreibe meinen Reiseblog – dafür brauche ich Zeit für mich. Doch sobald ich in ein Hostel einchecke oder in einem Restaurant esse, lerne ich Menschen kennen. Entscheiden kann ich jedoch selbst: Will ich alleine sein oder Gesellschaft haben?»
Jürgen Uima (47), LKW-Fahrer, Bachenbülach ZH, geniesst die Ruhe im Lastwagen
«Gerade hatte ich einen Monat Ferien mit meiner Frau und unseren drei Kindern. Nun bin ich wieder drei Wochen unterwegs. Der Abschied ist jedes Mal sehr hart. Doch da ich zu Hause immer sehr viel mit meinen Kindern zusammen bin und deshalb selten Zeit für mich habe, geniesse ich es umso mehr, im LKW gemütlich Hörbücher zu hören und am Abend zu lesen.»
Heike Langenkamp (53), Informatikerin, Ventschau (D), wohnt alleine im Wald
«Vor neun Jahren zog ich aus Geldnot in mein Ferienhaus. Ich arbeite zu Hause, sehe wochenlang keinen Menschen.
Am Anfang hatte ich Angst zu vereinsamen. Doch das Gegenteil passierte. Ich dachte viel über mich nach und merkte endlich, was mich zufrieden macht: Waldspaziergänge und fotografieren.»
Robert Bösch (60), Sport- und Landschaftsfotograf, Oberägeri ZG, arbeitet alleine und im Team
«Ich schätze die Ruhe, wenn ich für Landschaftsaufnahmen alleine unterwegs bin. Dies als Kontrast zum Druck und zur Hektik bei Fototerminen mit Athleten und Models. Ich muss mich mit niemandem abstimmen, brauche nichts zu diskutieren. Ich mache das, was ich für richtig halte. Es stört mich auch nicht, mehrere Tage alleine unterwegs zu sein. Ich geniesse gerne abends einen guten Wein – ob im Zelt, im Campingbus oder in einer Hütte.»
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