Erotische Erlebnisse für «anspruchsvolle behinderte Männer»: Das verspricht die Firma Sexcare aus Thun BE auf ihrer Internetseite. «Feinfühlige Ladies» sehen ihre Kunden laut Werbetext «als Männer und nicht als Behinderte». Alle «Ladies» hätten eine «intensive Schulung» durchlaufen. Laut Sexcare-Chefin Isabelle Kölbl kostet eine Stunde 240 bis 350 Franken. Kunden müssen in der Regel mindestens zwei Stunden buchen. Das Angebot richtet sich an Menschen «mit jeglicher Form von Behinderung», so Kölbl: «Wir wollen niemanden zurückweisen.»
Daniel Wernli aus S. nimmt das Sexcare-Angebot regelmässig in Anspruch. Der 43-Jährige ist auf den Rollstuhl angewiesen, weil er seit seiner Kindheit teilweise gelähmt ist. Wernli sagt, es sei schwierig, eine Freundin zu finden. Denn heute zähle für viele Menschen nur der äussere Eindruck: «Da habe ich keine Chance.» Es sei für ihn einfacher, seine Sexualität mit einer Sexcare-Mitarbeiterin auszuleben.
Die Firma ist nicht die einzige Anbieterin von Sexdienstleistungen für Behinderte. Seit einem Jahr bildet auch die Zürcher «Initiative Sexualbegleitung» Frauen aus. Das Institut will Behinderten «zwischenmenschliche Begegnungen» verkaufen – für 120 Franken pro Stunde. Leiter Erich Hassler stellt sein Angebot als «integriertes Konzept für sexuelle Selbstbestimmung» dar: Er will Behinderten helfen, ihren Körper besser kennenzulernen und ihr Selbstbewusstsein zu verbessern.
Ausbildung: Ein Tag bis sieben Wochenenden
Unabhängige Fachleute gehen auf Distanz zum neuen Angebot. Peter Wehrli ist Psychologe und sitzt selber im Rollstuhl. Er leitet das Zentrum für selbstbestimmtes Leben in Zürich. Es sei falsch, eine solche Dienstleistung mit therapeutischem Ansatz zu verkaufen, kritisiert Wehrli: «Das ist Scharlatanerie.» Das Versprechen, dass Sexualbegleitung eine heilende Wirkung haben könne, sei nicht ehrlich und verwirre die behinderten Kunden nur. Für Andrea Gisler, Juristin und Präsidentin der Zürcher Frauenzentrale, ist klar: «Der therapeutische Ansatz wird vorgeschoben. Die Frauen verkaufen nur sexuelle Dienstleistungen.» Auch seien die Sexualbegleiterinnen ungenügend ausgebildet für die Arbeit mit Behinderten. Tatsächlich dauert die Ausbildung der Sexcare-Frauen nur einen Tag. Bei «Initiative Sexualbegleitung» sind es immerhin sieben Wochenenden.
Marcus Walt, Bereichsleiter im Wohnheim Ilgenmoos in Effretikon ZH, sagt ebenfalls, das sei zu kurz, um die Bedürfnisse von Behinderten gründlich zu verstehen. Zudem sei die Sexualbegleitung zum Beipiel für geistig schwer Behinderte nicht geeignet: «Diese Menschen können ihre Wünsche nicht klar ausdrücken. Doch die Kunden müssen auch Nein sagen können, wenn ihnen eine Berührung unangenehm ist.»
Walt bezweifelt zudem, ob die Distanz zwischen Behinderten und Frauen gewährleistet ist. Er hat verschiedentlich beobachtet, dass sich Männer in die Sexualbegleiterinnen verliebt haben: «Sie glauben dann, die Frauen wünschten eine Beziehung mit ihnen.» Folge: «Die Männer sind frustriert oder eifersüchtig, wenn sie merken, dass die Sexualbegleiterinnen auch andere Kunden besuchen.» Und das gebe schlechte Stimmungen im Heim.
Zur Kritik der Fachleute sagt Erich Hassler, Sexualbegleitung könne «sehr wohl» ein Ersatz für eine Liebesbeziehung sein. Die Dauer der Ausbildung sei keine Garantie für die Qualität des Angebots. Seine Mitarbeiterinnen würden Kunden darauf hinweisen, dass sie nicht ihre Partnerinnen seien.
Auch Sexcare-Chefin Isabelle Kölbl behauptet, ihre Frauen würden «ganz klar eine abgegrenzte Dienstleistung» anbieten. Die Sexualbegleitung könne «das Entdecken der eigenen Sexualität und einen unbeschwerten Umgang damit fördern». Das wirke sich positiv auf die Partnersuche aus. Nach dem Besuch bei einer Sexcare-Lady seien behinderte Männer «weniger auffällig in ihrem Verhalten und zufriedener». Kölbl räumt zwar ein, die Ausbildung sei kurz. Doch die «richtige Schulung» finde erst später bei der praktischen Arbeit statt.
Tipps: Beratungsstellen für Behinderte
- Zentrum für selbstbestimmtes Leben, Tel. 044 272 80 00
- Air Amour, Fachstelle für Selbstbestimmung, Beziehung und Sexualität für Menschen mit einer geistigen Behinderung, Tel. 061 205 29 27
(Mo, Mi, Do: 10–18 Uhr) - Avanti Donne, Kontaktstelle für Frauen und Mädchen mit Behinderung, Tel. 0848 444 888
(Mo bis Do: 10–12 Uhr)