Wenn es abends dunkel wird, klettert Tobias Sennhauser über den Zaun zum Grundstück eines Grossverteilers. Dort öffnet der 29-Jährige die Container und fischt Gemüse und Früchte heraus. Was noch gut ist, nimmt er mit und kocht damit sein Abendessen. Damit protestiert der Berner gegen die Verschwendung von Essen.
Sennhauser ernährt sich auch vegan. Das heisst, dass er auf Fleisch, Milchprodukte oder Honig verzichtet. «Ich will nicht, dass ein Tier Gewalt erleidet», sagt er. Sennhausers Freundin ist auch Veganerin. «Es ist mir wichtig, dass wir dieselben Werte haben», sagt er. In seiner Wohngemeinschaft leben aber auch Fleischesser.
Vegane Ernährung ist im Trend. Die Tierrechtsorganisation Tier-im-Fokus.ch schätzt, dass es in der Schweiz bis zu
25 000 Veganer gibt. Auf dem Bestsellertisch bei Orell Füssli am Bellevue Zürich liegen gleich fünf Bücher über veganes Kochen auf. Ausserdem steht da ein grosses Gestell mit den verschiedensten Diätbüchern. Praktisch jede Woche kommt ein neues heraus.
«Manche entwickeln missionarischen Eifer»
Die Diäten werden immer absurder. So warb kürzlich die deutsche Schauspielerin Veronica Ferres in den Medien für die Paleodiät. Sie isst nur noch Lebensmittel, die auch Steinzeitmenschen gegessen hatten. Das heisst, sie meidet Milchprodukte oder auch Getreide. «Meine Haut war noch nie so glatt», sagt Ferres.
Dieser Diätwahn bringt jetzt Expertinnen auf den Plan. Die Menschen würden sich viel zu sehr mit ihrer Ernährung beschäftigen. Erika Toman, Psychologin und Leiterin des Kompetenzzentrums für Essstörungen und Adipositas, sagt: «Fast jeder hat heute das Gefühl, noch gesünder, ethischer oder kalorienärmer essen zu müssen.» Ernährungsfachfrau Bettina Isenschmid, Chefärztin im Spital Zofingen AG, sagt: «Manche entwickeln dabei regelrecht einen missionarischen Eifer.»
Zum Beispiel Renato Pichler, der Präsident der Schweizer Vereinigung für Vegetarismus. Er rät Schwangeren und Kindern zur veganen Ernährung. Der Zürcher Präventivmediziner David Fäh warnt: «Je geringer die Auswahl an Lebensmitteln, desto grösser das Risiko eines Mangels» (siehe Ausgabe 11/10).
Radikale Diäten führen zu Mangelernährung
Im Extremfall wird der Wunsch, sich richtig und gesund zu ernähren, zur krankhaften Sucht. Experten sprechen in diesem Fall von einer Orthorexie. Laut einer internationalen Übersichtsstudie der Semmelweis-Universität in Budapest aus dem letzten Jahr leiden knapp sieben Prozent der Menschen an dieser Krankheit. Betroffene denken zwanghaft und ständig daran, was sie bereits gegessen haben und was sie als nächstes essen werden.
Das schadet der Gesundheit. Erika Toman: «Radikale Diäten können zu Mangelernährung, Untergewicht und Schlafstörungen führen.» Denn Betroffene würden ihre Lebensmittel einseitig auswählen. Auch die Leistungsfähigkeit nehme ab.
Es gibt Leute, die für ihre Diät den Rat des Arztes in den Wind schlagen, wie eine Strassenumfrage des Gesundheitstipp in Zürich zeigt. Beispiel Ruth Klumpp aus Hedingen ZH. Sie ist seit wenigen Wochen Veganerin. Das hat ihr ihre Atemtherapeutin gegen ihre Rückenschmerzen empfohlen. Die 62-Jährige schwärmt: «Sie hat eine ganzheitliche Sicht auf Gesundheit.» Doch Klumpp tut das entgegen den Empfehlungen ihres Hausarztes. Dieser hatte ihr geraten, mindestens zweimal wöchentlich Fleisch zu essen. Die Schmerzen von Klumpp sind bis jetzt nicht besser geworden.
«Kontakte pflegen statt Kohlenhydrate zählen»
Viele Menschen machen Diäten, um das Altern zu stoppen. Früher, so Ernährungsfachfrau Isenschmid, hätten sich die Leute mit dem Gedanken an ein Leben nach dem Tod getröstet. «Heute fasten sie.»
Zum Beispiel Reinhard Jäger aus Jenins GR. Er glaubt, dass ihn die Blutgruppen-Diät jung hält. «Das ist pures Anti-Aging», sagt der 45-Jährige. Je nach Blutgruppe lässt man bei dieser Diät bestimmte Speisen weg. Jäger isst am Morgen sein Müesli, am Mittag weisses Fleisch oder Fisch mit Gemüse und Reis und abends Soja-Joghurt. Dafür verzichtet er auf Kohlenhydrate.
Isenschmid sagt dazu: «Menschen wären zufriedener, wenn sie akzeptieren würden, dass sie älter werden.» Statt Kohlenhydrate zu zählen, würden sie lieber Hobbys und Kontakte pflegen. Oft suchen einsame Menschen aber gerade in Diäten ihre Rettung, sagt die Fachfrau. «Sie denken, dass sie dadurch attraktiver und liebenswerter werden.» Ein ähnliches Muster hätten Menschen in tiefen Krisen: «Sie sehen in Ernährungsregeln einen Anker.» Denn sie gäben dem Tag eine Struktur und dem Leben ein Ziel: schlanker oder gesünder zu werden.
Laura Schweizer (Name geändert) aus Rüti ZH hat in den letzten Monaten 15 Kilogramm abgenommen. Die 64-Jährige macht die Low-Carb-Diät und verzichtet auf Kohlenhydrate. Grund: Schweizer hat einen hohen Blutzucker. Ihre Diät hilft ihr aber auch in einer schweren seelischen Krise, ihr Partner ist kürzlich gestorben. Sie sagt: «Die Ernährung ist momentan das Einzige, was mir noch Kraft gibt.» Isenschmids Antwort darauf: «Eine Diät bringt keine Liebe und löst keine Krise.» Menschen würden so nur ihre Probleme verdrängen. Das kann die Einsamkeit sogar vergrössern. Denn Diäten schaden sozialen Kontakten.
Diese Erfahrung machte auch Thomas Amann (Name geändert). Er hat im Dezember eine Entschlackungskur gemacht. Fünf Tage ernährte sich der 54-Jährige nur von Säften. «Es war todlangweilig», sagt Amann. Er sei während der Kur dreimal zum Abendessen eingeladen worden. «Doch ich musste immer absagen.»
Laut Expertin Toman sind soziale Kontakte ein guter Gradmesser: «Wer merkt, dass er seine Freunde meidet, um ja nichts Falsches essen zu müssen, ist zu sehr von der Ernährung gesteuert.» Doch es sei möglich, ein natürliches Hungergefühl zu entwickeln. «Dann kann man sich auch ohne strikte Diät ausgewogen ernähren.» Tomans Tipp: Stets eine breite Palette an Gemüsen, Früchten, Getreiden, Fleisch, Fisch und Milchprodukten einkaufen. «Dann hat man alle wichtigen Nährstoffe zu Hause: Vitamine, Mineralien, Kohlenhydrate, Eiweisse, Ballaststoffe und Fette.» So könne man sich beim Kochen spontan vom Appetit leiten lassen. Süssigkeiten gehörten ebenso dazu, aber in kleinen Portionen. Nur Fertigprodukte sollte man meiden, sagt Toman. «Sie sind geschmacklich verändert und stören das Hungergefühl.»
Selbsttest: Habe ich ein gestörtes Essverhalten?
Wenn die folgenden Feststellungen auf Sie zutreffen, geben Sie der Ernährung zu viel Bedeutung:
- Sie denken mehr als eine Stunde täglich an Ihre Ernährung.
- Sie planen Ihre Mahlzeiten lange im Voraus.
- Sie meiden es, auswärts oder bei Freunden zu essen.
- Sie essen nicht, bis Sie satt sind, sondern nur exakt so viel, wie Ihre Diät vorschreibt.
- Ihre Familie oder Mitbewohner nerven sich über Ihre Essgewohnheiten.
- Sie haben ein schlechtes Gewissen, wenn Sie etwas essen, das Ihre Diät verbietet.