Wenn Ärzte Antibiotika zu leichtfertig verschreiben, verlieren sie ihre Wirkung. Schlimmer noch: Die Keime entwickeln Strategien, um die Medikamente abzuwehren, und werden resistent. Experten warnen seit Jahren vor diesem medizinischen Gau. Erfolglos. In der Schweiz verschreiben Ärzte heute noch ungefähr gleich viele Antibiotika wie vor zehn Jahren. Ebenso in andern europäischen Ländern wie Frankreich, Finnland oder Schweden, wie ein Bericht der OECD aufzeigt. Infektiologe Marco Rossi vom Kantonsspital Luzern bestätigt: «Ärzte und Spitäler verschreiben noch zu viele Antibiotika.»
Das Problem: Ärzte geben Antibiotika oft vorschnell ab, wenn Beschwerden auftreten. Doch gegen eine Mittelohrentzündung oder eine Entzündung der Nasennebenhöhlen wirken sie nur in den seltensten Fällen. Denn Antibiotika bekämpfen nur Bakterien, in den meisten Fällen lösen aber Viren die Beschwerden aus. Dagegen wirken Antibiotika nicht.
Gegen Viren gibt es keine Medikamente. Bettruhe, Hausmittelchen oder ein Schmerzmittel sind dann angesagt. Laut Hausärztin Stephanie Wolff aus Bülach ZH benötigen nur wenige rasch Antibiotika. Dazu zählen insbesondere kleine Kinder, wenn Fieber und starke Schmerzen hinzukommen. Auch Menschen mit einem geschwächten Abwehrsystem, sehr alte Menschen und solche, die schon vorher krank waren, benötigen rasch Antibiotika. Grund: Bakterien können sich bei ihnen schneller einnisten. Wolff: «Die Antibiotika verhindern, dass es zu Komplikationen kommt.»
«Natürliche Darmflora wird geschädigt»
In allen anderen Fällen schaden Antibiotika mehr als sie nützen, auch wenn Bakterien im Spiel sind. Sie verkürzen den Krankheitsverlauf im günstigsten Fall um einen Tag. Doch sie belasten den Körper mit ihren Nebenwirkungen. Patienten leiden dann oft an Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung oder Schwindel. Experten der deutschen Fachzeitschrift «Gute Pillen – Schlechte Pillen» kamen im April zum Schluss, dass «praktisch alle Antibiotika die natürliche Darmflora schädigen». Sie spielt eine grosse Rolle im Abwehrsystem des Menschen. Einmal zerstört, baut sie sich nur langsam wieder auf.
Gewisse Wirkstoffe können auch das Herz schädigen, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie im Fachblatt «British Medical Journal» aufzeigt: Antibiotika mit dem Wirkstoff Clarithromycin erhöhen das Risiko für einen Herzinfarkt. Ein entsprechendes Medikament gegen Entzündungen in Rachen und Nasennebenhöhlen ist unter dem Namen Klacid und als Generika erhältlich.
Statt vorschnell Antibiotika zu verschreiben, sollten Ärzte besser zuerst einmal abwarten. Das zeigt eine ebenfalls kürzlich im «British Medical Journal» veröffentlichte Studie. Forscher der Universität Southhampton in England beobachteten 900 Patienten mit einer Infektion der oberen Atemwege. Dazu gehören Nase, Rachen und die Nasennebenhöhlen. Eine Gruppe der Patienten erhielt sofort Antibiotika, eine andere Gruppe wartete erst drei Tage ab. Dann sollten die Patienten dem Arzt mitteilen, ob sie aus ihrer Sicht Antibiotika benötigten. Der Arzt gab ihnen zuvor klare Anweisungen über die Symptome und wie sie diese mit Schmerzmitteln lindern können. Nach den drei Tagen fanden nur 40 Prozent, sie müssten Antibiotika erhalten.
Ähnliches zeigte eine frühere Untersuchung der Universität Düsseldorf an Patienten mit akuter Bronchitis. Sie fand heraus, dass Hausärzte 40 bis 60 Prozent weniger Antibiotika verschreiben müssten, wenn sie ihre Patienten besser über die Krankheit aufklärten und sie instruierten, wie sie sich selber behandeln können.
Beispiel Hals- und Mandelentzündung: Die meisten Patienten haben nach einer Woche auch ohne Antibiotika keine Beschwerden mehr. Für Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser sind Antibiotika nur dann nötig, wenn sich die Symptome nach fünf Tagen wieder verschlechtern, die Lymphknoten schmerzen und geschwollen sind. Dasselbe gelte bei Fieber über 38 Grad, Eiter an den Mandeln und wenn der Arzt beim Abstrich Streptokokken finde.
Die Fachgesellschaften empfehlen in diesen Fällen Medikamente mit dem Wirkstoff Penicillin oder Amoxicillin. Letzteres gibt es seit 30 Jahren und es wirkt auch gegen die meisten anderen Bakterien gut, die bei Husten und Schnupfen im Spiel sein können.
Die Schleimhäute feucht halten
Auch Schnupfen mit Halsschmerzen, Niesen, milder Husten und einige Tage moderates Fieber heilen in der Regel nach fünf bis zehn Tagen ohne Antibiotika aus. Patienten sollten versuchen, die Schleimhäute feucht zu halten – das heisst: viel trinken, Kochsalzlösung inhalieren oder die Nase mit Salzwasser spülen. Kommen Schmerzen hinzu, helfen Schmerzmittel.
Nur wenn die Symptome nach fünf Tagen wieder zunehmen oder insgesamt länger als zehn Tage anhalten und Fieber oder starke Kopfschmerzen sowie eitriges Nasensekret auftreten, haben sich wahrscheinlich Bakterien in den Schleimhäuten angesiedelt. Dann können Antibiotika nötig sein.
Noch ernster wird es bei einer Lungenentzündung, die von Bakterien ausgelöst wurde. Sie ist lebensgefährlich. Um ein Voranschreiten aufzuhalten, gibt der Arzt sofort ein Breitband-Antibiotikum. Parallel dazu nimmt er einen Abstrich, um den genauen Erreger zu finden. Erst dann bestimmt der Arzt den geeigneten Wirkstoff.