Die Baslerin Sandra Bargmann war schwanger im sechsten Monat, als ihr Arzt feststellte, dass mit dem Baby etwas nicht stimmte. Ein Spezialist machte eine Magnetresonanztomografie (MRI) und bestätigte die Einschätzung: Das Kind im Bauch war wahrscheinlich schwer behindert. Der Spezialist beschied ihr: «Sie haben drei Tage Zeit, um sich für oder gegen den Abbruch der Schwangerschaft zu entscheiden.»
«Es war die schlimmste Zeit unseres Lebens»
Aus dem Nichts mussten die Eltern über Leben und Tod ihres Kindes entscheiden. «Es war die schlimmste Zeit unseres Lebens», sagt die 49-Jährige. Nach heftigem Ringen und vielen Gesprächen entschieden sich die Eltern für den Abbruch der Schwangerschaft.
Wie den Eltern Bargmann ergeht es vielen Paaren, die ein Kind erwarten: Zahlreiche Untersuche und Bluttests sollen gewährleisten, dass das Kind gesund ist. Doch bei schlechten Resultaten müssen Eltern schwierige Entscheide treffen.
Die deutsche Humangenetikerin und Sozialwissenschafterin Silja Samerski sagt, dies sei für Eltern ein Albtraum: «Solche Tests zwingen sie zu Entscheidungen, die sie komplett überfordern.» Etwa beim Downsyndrom: Beim sogenannten NIPT-Test nimmt der Arzt der Schwangeren Blut ab und lässt es im Labor auf Anzeichen einer Behinderung prüfen.
Doch der Test liefert keine Diagnose, sondern berechnet lediglich das Risiko. Das Resultat lautet etwa: Das Risiko für ein Kind mit Downsyndrom liegt bei 1 zu 200. «Eltern sind auf statistische Prognosen nicht vorbereitet», sagte Samerski kürzlich an einer Tagung zum Thema Kindsverlust in Brugg AG.
Hinzu kommt: Die Resultate der Tests liegen oft erst vor, wenn die Frau bereits im vierten bis sechsten Monat schwanger ist. Das heisst: Falls die Frau das Kind nicht will, ist sie gezwungen, es in der späten Phase der Schwangerschaft abzutreiben. Studien bestätigen diese Tendenz. Laut der Nationalen Ethikkommission erfolgen die meisten Abtreibungen nach der zwölften Woche einer Schwangerschaft, weil Ärzte beim Fötus eine Fehlbildung oder eine Krankheit entdeckten. Solche Abtreibungen gibt es immer häufiger – laut Zahlen des Bundesamtes für Statistik allein im letzten Jahr über 200 Mal.
Doch das gibt Probleme. Die Babys leben zum Teil noch ein paar Stunden oder Tage, nachdem sie zur Welt gekommen sind. Die Ethikkommission geht davon aus, dass dies pro Jahr bei rund 25 Kindern der Fall ist. Eine Studie von 2021 bestätigt dies. Schweizer Forscher hatten drei Jahre lang alle Todesfälle bei Babys untersucht, die im sechsten oder siebten Monat in Schweizer Spitälern zur Welt kamen. Von 195 abgetriebenen Babys lebten 76 danach noch.
Ärzte haben dafür zwar eine Lösung: In manchen Fällen spritzen sie dem Fötus Kalium ins Herz. So stirbt er vor der Geburt im Bauch der Mutter. Fachleute sprechen von Fetozid. In der Schweiz kommt dies in elf Spitälern vor. Für die Zürcher Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle stellen sich damit ethisch und psychologisch heikle Fragen: «Solche Spätabbrüche kommen einer Kindstötung sehr nahe.» Es stelle sich die Frage, ob die Eltern und auch die Ärzteschaft den Tod eines Kindes besser verkraften könnten, wenn man es nach der Geburt sterben lasse. Dann handle es sich um passive Sterbehilfe und nicht um Kindstötung, sagt Baumann-Hölzle.
Ein weiterer heikler Punkt: Unter diesen Babys gibt es auch lebensfähige. Denn der Bluttest NIPT sucht vor allem nach dem Downsyndrom. Dazu sagt Susanne Schanda von der Elternorganisation Insieme, welche die Interessen von Menschen mit geistiger Behinderung vertritt: «Neun von zehn Frauen, bei deren Fötus Ärzte das Downsyndrom diagnostizierten, entscheiden sich für eine Abtreibung.»
Diese Zahl sei sehr hoch, sagt Schanda, «vor allem wenn man weiss, dass auch solche Kinder glücklich und erfüllt leben können». 2020 bestätigte eine Studie: In der Schweiz kommen 40 Prozent weniger Kinder mit dem Downsyndrom zur Welt, seit die Krankenkassen den Test bezahlen.
Mit Tests wollen Ärzte Klagen verhindern
Hinzu kommt: Ärzte empfehlen die Tests auch aus Angst vor Klagen. Ein Fall betraf eine Bernerin, die zwei Kinder mit cystischer Fibrose hat, einer schweren Stoffwechselkrankheit. Die Frau verklagte nach der Geburt des zweiten Kindes ihre Ärztin: Diese habe es versäumt, sie während der Schwangerschaft richtig zu untersuchen. Das Bundesgericht entlastete die Ärztin im Jahr 2022. Dem Urteil war ein 15-jähriger Rechtsstreit vorausgegangen.
Als Sandra Bargmann ihr Kind abtrieb, bekam sie vom Arzt ein Medikament, das Wehen auslöste. So brachte sie ihr Kind vorzeitig zur Welt. «Die Vorstellung, meinem Kind mit der Geburt nicht das Leben, sondern den Tod geschenkt zu haben, ist noch immer furchtbar», sagt sie. Der Bub lebte nach der Geburt noch drei Stunden. Für Bargmann ist klar: «Ohne diese Tests müssten wir heute nicht die Last unseres Entscheides tragen.» Sie werde «nie wissen, ob der Entscheid richtig war».
Schwanger: So bleiben Sie guter Hoffnung
- Sie sind als Schwangere nicht verpflichtet, Tests zu machen. Fragen Sie Ihren Arzt, welche Untersuche wirklich nötig sind.
- Überlegen Sie sich vor einem Test, ob Sie Ihr Kind bei einem schwierigen Befund abtreiben würden. Wenn nicht: Verzichten Sie auf die Tests.
- Lassen Sie sich von Fachleuten beraten, falls die Testergebnisse nicht gut sind. Hilfe bietet das Beratungstelefon Appella.ch, Tel. 044 273 06 60.
Das gilt beim Schwangerschaftsabbruch
- Der Schwangerschaftsabbruch ist in der Schweiz grundsätzlich verboten.
- Ein Abbruch ist innerhalb von zwölf Wochen nach der letzten Periode straflos, wenn Schwangere eine Notlage geltend machen und die Abtreibung bei einem Arzt durchführen lassen («Fristenlösung»). Sie müssen dazu ein schriftliches Gesuch an den Arzt stellen.
- Der Abbruch ist bis zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes straffrei, wenn man dadurch eine schwerwiegende körperliche Gefahr oder eine psychische Notlage der schwangeren Frau abwenden kann. Dazu ist ein Urteil eines Arztes nötig.
- Die Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs übernimmt die Grundversicherung der Krankenkasse.