Zürich, 25. April 2022: Die Schweiz steht kurz vor der Abstimmung über die Organtransplantation. Chirurgen sollen neu allen Verstorbenen Organe entnehmen dürfen, die sich vorgängig nicht ausdrücklich dagegen ausgesprochen haben. Ein Komitee ist dagegen, darunter die Ethikerin Ruth BaumannHölzle. Auf Tele Züri sagt sie: «Die Organspende muss freiwillig bleiben.» Sonst bestehe die Gefahr, dass Ärzte Organe entnähmen bei Menschen, die das nicht wollten. Doch die Abstimmung erfolgte zugunsten der Chirurgen.
Ruth Baumann-Hölzle gehört zu den Verlierern. Rund acht Jahre zuvor: In der SRF-Sendung «Club» vom 25. Februar 2014 geht es um die Eizellspende. Dabei entnehmen Ärzte einer Frau Eizellen, befruchten sie im Labor und setzen sie einer anderen Frau ein. Ruth BaumannHölzle warnt, Zeugung und Geburt würden zum Geschäft: «Paare, die es sich leisten können, fordern die Eizellspende ein – auf der anderen Seite stehen unprivilegierte Frauen, die ihre Eizellen verkaufen.»
Doch das Parlament sagt Ja zur Eizellspende. Auch hier steht die Ethikerin auf der Verliererseite. Ruth Baumann-Hölzle kämpfte gegen umstrittene Methoden bei Transplantation, Fortpflanzungsmedizin und Gentherapie. Sie kritisierte Forscher, die an Embryonen experimentieren wollten, die bei der künstlichen Befruchtung überzählig waren. Sie zeigte auf, welche Probleme die Leihmutterschaft bei Frauen auslöst, die gegen Geld ein Kind austragen.
Kurz: Ruth Baumann-Hölzle war eine der wenigen, die sich nicht scheuten, der Pharma- und Ärzteindustrie entgegenzutreten. Gegen die übermächtige Industrie, gestützt von willfährigen Politikern und Wissenschaftern, war sie meistens machtlos – eine Art Don Quijote, wenn sie gegen die Windmühlen der Gesundheitsindustrie ankämpfte.
Auch bei Widersachern geniesst Baumann-Hölzle Respekt
Jetzt tritt die Kämpferin von der Bühne ab. Damit verliert die Schweiz einer der wichtigsten kritischen Stimmen, die Patienten vor einer unmenschlichen Medizin bewahren wollen. Doch nicht nur die Patienten, auch die Fachwelt verliert eine Expertin, die sie dazu zwingt, ihr Handeln zu überprüfen. Kein Wunder, geniesst Baumann-Hölzle selbst bei Widersachern Respekt: Fortpflanzungsmediziner Bruno Imthurn, lange Zeit am Unispital Zürich tätig, sagt: «Ich sah jeweils die Chancen in den neuen Methoden, sie die Risiken.»
Doch Baumann-Hölzle habe immer «sehr seriös» argumentiert. Der Basler Genetiker Hansjakob Müller sagt: «Ich bin ihr dankbar, dass sie die Diskussion über genetische Untersuche am Embryo in der Öffentlichkeit förderte.» Ruth Baumann-Hölzle wuchs in Männedorf ZH auf. Ihre Eltern führten ein Elektronikgeschäft. Zu Hause diskutierte man häufig, auch über Politik, oft waren Gäste eingeladen. Im Konfirmationsunterricht fühlte sie sich wohl. Sie studierte Theologie und wurde Pfarrerin.
Als junge Frau kam sie selber in die Rolle der hilflosen Patientin: Nach einem Unfall war sie lange ans Spitalbett gefesselt. «Ich durfte nur auf dem Rücken liegen.» Die Glocke war unerreichbar. «Diese Hilflosigkeit war schrecklich», sagt die heute 66-Jährige. Das Erlebnis prägte sie: Sie verarbeitete das Geschehene in der Abschlussarbeit des Studiums. Ein Stipendium brachte sie dann an die HarvardUniversität in den USA. Sie studierte dort Ethik.
Joggen morgens um fünf Uhr, arbeiten bis in die Nacht hinein
Ruth Baumann-Hölzle stand jeden Morgen um fünf Uhr auf und ging joggen. Ansonsten arbeitete sie jede freie Minute, meist bis Mitternacht. Ihr Lebenslauf widerspiegelt das: Er umfasst 13 Seiten und listet 18 Bücher und 115 Artikel in Fachzeitschriften auf. Baumann-Hölzle war in vielen Kommissionen tätig, auch in der Eidgenössischen Ethikkommission. Andrea Arz de Falco, Ethikerin und heutige Vizedirektorin des Bundesamts für Gesundheit, erinnert sich: «Wir sassen zusammen in der Kommission.
Ruth BaumannHölzle war dort oft in der Minderheit, vertrat aber dezidiert ihre eigenen Standpunkte. Sie wurde sehr geschätzt.» Baumann-Hölzle sagt heute zu ihren Niederlagen: «Mir ist immer wichtig gewesen, dass das Volk richtig informiert ist.» 1999 gründete sie mit anderen das Institut Dialog Ethik, bildete Ärzte und Pflegefachleute aus in Ethik. Die Idee verbreitete sich, heute gibt es solche Ethikgruppen an vielen Spitälern.
Reto Stocker, ehemaliger Intensivmediziner am Unispital Zürich und an der Klinik Hirslanden, sagt: «Ruth Baumann-Hölzle war eine Pionierin. Sie leistete einen wesentlichen Beitrag, dass man in Spitälern ethische Fragen diskutiert.» Gabriele Pichlhofer von der Organisation Biorespect Basel: «Mit dem Institut hat sie dazu beigetragen, dass ethische Fragen entsprechendes Gewicht in den Debatten erhalten.» Mündliche Debatten waren allerdings nicht Baumann-Hölzles Stärke: Sie brachte die Dinge selten auf den Punkt, verirrte sich in komplizierten Sprachwindungen. Ein Albtraum auch für Journalisten, die um ein direktes Zitat rangen. Ein Beispiel: 2018 berichtete die TVSendung «10 vor 10» über ein teures Medikament gegen eine schwere Muskelkrankheit. Vier Millionen sollte es kosten. Frage an die Ethikerin: «Ist der Preis gerechtfertigt?»
Antwort von Baumann-Hölzle: «Den Preis festsetzen in dem Sinn, was wir als Gesellschaft bereit sind für eine Patientengruppe zu zahlen, das ist im Ansatz insofern problematisch, als wir im Moment mit Kosten konfrontiert sind, die wir, wenn wir sie verallgemeinern, uns im Gesundheitswesen einfach nicht leisten können.» Ein anderer Gesprächsteilnehmer brachte es auf den Punkt: «Der Betrag von vier Millionen überschreitet jedes vernünftige Mass – er ist eine Provokation.»
Vom Retortenbaby zur Eizellspende
- 1978: Louise Brown, das erste künstlich gezeugte Kind, kommt in England zur Welt. Bei der sogenannten In-vitro-Fertilisation befruchtet man eine Eizelle in einer Petrischale mit dem Sperma des Mannes. Den Embryo setzt man der Frau wieder ein. Die Erfolgsquote liegt bei 10 bis 30 Prozent.
- 2001: Das Fortpflanzungsmedizingesetz tritt in Kraft und regelt die künstliche Befruchtung.
- 2016: Das Stimmvolk erlaubt die Präimplantationstechnik: Ärzte dürfen ab jetzt Embryonen genetisch untersuchen, bevor sie sie einer Frau einsetzen.
- 2021: Das Volk sagt Ja zur Ehe für alle. Lesbischen Paaren ist die Samenspende jetzt erlaubt. Heute sind sie mit einem Anteil von 58 Prozent die grösste Gruppe, die eine künstliche Befruchtung durchführen.
- 2022: Das Parlament sagt Ja zur Eizellspende. Für die Frau ist die Spende wegen der vorgängigen Hormonbehandlung mit grossen Risiken verbunden, zum Beispiel Unfruchtbarkeit.