Schweissperlen glitzern auf der Stirn von Miguel Guimares aus Zürich (32). Soeben hat er sein Lauftraining mit einigen Dehnübungen abgeschlossen. «Stretching schützt mich vor Muskelkater», sagt er.
Auch die Zürcher Hobbysportlerin Jenny Näf (29) ist überzeugt, dass Dehnübungen sie vor Muskelkater bewahren – und vor Muskelzerrungen. «Deshalb dehne ich immer vor und nach dem Lauftraining», sagt sie.
So wie Miguel Guimares und Jenny Näf erhoffen sich viele Freizeitsportler Vorteile für den Körper, wenn sie ihre Muskeln dehnen. Doch Stretching hilft deutlich weniger, als viele vermuten, dies belegen verschiedene Studien. Beispiel Muskelkater: Im Jahr 2011 veröffentlichte das unabhängige Forschernetzwerk Cochrane einen Bericht, wonach Dehnen Muskelkater nicht verhindert. Die Wissenschafter analysierten insgesamt zehn Studien mit jungen und gesunden Erwachsenen, die vor oder nach dem Training ihre Muskeln dehnten.
Auch vor einer Muskelzerrung schützt Stretching kaum. Im Jahr 2014 werteten dänische Forscher 25 Studien mit über 25 000 Freizeit- und Profisportlern aus. Fazit: Die Teilnehmer, die dehnten, erlitten nicht weniger Muskelzerrungen als jene, die es nicht taten. Im Gegenteil: Durch das Dehnen zieht man die Muskeln auseinander. Sportarzt Ingo Froböse aus Köln (D): «Bei starkem Training ist das Risiko für kleinste Muskelverletzungen grösser.» Dehnübungen verschlimmern dann solche kleinen Muskelverletzungen.
Stretching hilft auch nicht, die Leistung der Muskeln zu steigern. Im Gegenteil: Die Muskeln brauchen zum Dehnen Kraft und können später nicht mehr die volle Leistung ausschöpfen. Das «Scandinavian Journal of Medicine and Science in Sports» wertete dazu über 30 Studien aus. Das Ergebnis: Dehnen vor dem Training, sowohl für Freizeit- als auch für Spitzensportler, verbraucht unnötig Muskelkraft.
Für Gymnastiksportler ist Dehnen sinnvoll
Unbestritten ist jedoch: Wer regelmässig dehnt, bleibt beweglich und hat weniger steife Muskeln. Deshalb empfiehlt Ingo Froböse Stretching insbesondere bei Turn- und Gymnastiksportarten. «Diese Trainingsformen erfordern eine grosse Beweglichkeit», erklärt er.
Eine im November 2020 veröffentlichte Studie japanischer Wissenschafter stützt die Aussage. Die Teilnehmer waren jung, gesund und trieben nur gelegentlich Sport. Dabei wurden sie in zwei Gruppen unterteilt: Die eine Hälfte machte kurze und intensive Dehnübungen. Die andere dehnte länger, dafür weniger intensiv. Beide Gruppen verbesserten ihre Beweglichkeit merklich. Froböse sagt: «Beweglichkeit ist wichtig für den Körper.» Der Grund: Dadurch funktionieren die Gelenke, die Muskeln bleiben lang, und das Bindegewebe ist elastisch.
Vier bis sieben Mal pro Woche ist ideal
Gemeinsam mit den Physiotherapeuten Lorenz Hirn, Adriane Hajduk und Christina Grilnberger vom Physiozentrum in Zürich hat der Gesundheitstipp auf einem Merkblatt 16 Dehnübungen zusammengestellt, mit denen man die Beweglichkeit trainiert – zum Beispiel mit der Lockerungsübung «Schulteröffner» (siehe Kasten).
Wichtig: Die Muskulatur sollte man nur so fest dehnen, dass die Position nicht schmerzt. «Den grössten Effekt erzielt man, wenn man regelmässig dehnt. Vier bis sieben Mal pro Woche sind ideal», sagt Lorenz Hirn.
Dehnübung «Schulteröffner»
Die Übung «Schulteröffner» lockert die Schultern und hält die Gelenke beweglich. Stellen Sie sich hüftbreit hin. Falten Sie die Hände hinter dem Rücken auf Gesässhöhe, und strecken Sie die Arme durch. Heben Sie nun die Arme leicht nach oben an, bis es in den Schultern zieht. Halten Sie die Position für 30 bis 45 Sekunden, und wiederholen Sie die Übung bis zu fünf Mal.
Weitere Beispiele im Gratis-Merkblatt «Dehnen von Kopf bis Fuss»
Das Merkblatt lässt sich hier herunterladen.