Die grosse Wiese liegt gleich hinter dem Berner Tiefenauspital. Christin Gerhardt steht im Gras, der Blick ist auf die Zielscheibe gerichtet. Die 27-Jährige atmet tief ein, hebt ihren Bogen, spannt die Sehne und konzentriert sich. Dann saust der Pfeil los. Gerhardt ist vom Bogenschiessen begeistert: «Seit ich den Sport mache, hat sich meine Körperhaltung klar verbessert.» Sie habe kein Hohlkreuz mehr und die Schultern seien lockerer. Denn die Arbeit mit Pfeil und Bogen kräftigt die Muskeln in Armen, Schultern, Rücken und Rumpf. Mehr noch: «Es hilft mir, Stress und Anspannung vom Beruf loszuwerden», sagt die junge Frau. Denn es funktioniere nur, wenn man ganz ruhig werde, in sich hineinhöre und sich konzentriere.
Deshalb hat Bogenschiessen auch in einzelnen Kliniken Einzug gehalten, etwa in der Rehaklinik Hasliberg im Kanton Bern. Arton Ramosaj ist stellvertretender Leiter Therapien und sagt: «Wir setzen es vor allem bei Patienten mit Burnout ein.» Man lerne dabei, sich selbst zu spüren und Selbstvertrauen aufzubauen. Wenn sich die Patienten auf den Bewegungsablauf und das Atmen konzentrieren, entspannen sie sich. Der Vorteil gegenüber anderen Entspannungsmethoden: «Es ist eine spielerische Art», so Ramosaj. Sie helfe vor allem jenen, die nur mit Mühe zur Ruhe kommen.
Patienten lernen, Frust und Spannung auszuhalten
Psychotherapeutin Diana Wende aus Zürich arbeitet ebenfalls mit Bogenschiessen. Sie sieht einen weiteren Vorteil: «Man verbindet es mit positiven Erlebnissen.» Zum Beispiel mit Naturverbundenheit und dem Spiel mit Pfeil und Bogen als Kind. Gute Erfolge beobachtet sie bei Menschen mit Depressionen und psychosomatischen Beschwerden. «Im Bogenschiessen zeigen sich verschiedene Themen aus dem Leben», sagt Wende. Etwa, wenn man seinen Stand nicht finde oder Mühe habe loszulassen. Dies greift die Psychotherapeutin im Gespräch mit dem Patienten auf.
In Deutschland, wo sich Diana Wende ausbilden liess, ist das Bogenschiessen als Therapie schon länger etabliert. Viele Jahre Erfahrung damit hat Pflegefachmann Axel Pötzsch von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im deutschen Zwickau. Bogenschiessen helfe auch bei Süchten, Ängsten, Zwängen oder beim Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Die Patienten lernen durch den Sport, ihren Körper zu spüren, Gefühle zu kontrollieren, Frustration und Spannung auszuhalten oder sich auf ein Ziel zu fokussieren. «Es ist jedoch wichtig, dass der Therapeut Patienten nicht überfordert oder falsch anleitet», sagt Pötzsch. Sonst könne Bogenschiessen Minderwertigkeitsgefühle oder Versagensängste fördern.
Wissenschaftliche Studien zum therapeutischen Bogenschiessen gibt es noch nicht. Dies mag auch daran liegen, dass der Begriff sehr Unterschiedliches umfasst. Die einen Fachleute preisen Bogenschiessen als Meditation und Achtsamkeitsübung für Gestresste an. Bei anderen steht das psychotherapeutische Gespräch im Vordergrund. Eine einheitliche Ausbildung für therapeutisches Bogenschiessen gibt es nicht. Neben Psychotherapeuten arbeiten Ergotherapeuten, Heilpraktiker und auch Personen ohne medizinische Ausbildung damit.
Wer den Sport ausprobieren will, sollte sich deshalb vorher informieren (Adressen siehe Unten). Wenn es um eine psychische Krankheit geht, sollte man die Therapie nur bei Personen mit psychologischer oder medizinischer Ausbildung machen.
Adressen und Informationen
Sportliches Bogenschiessen: Regionale Bogensportklubs, Adressen unter Bogensport.ch
Kurse und Ausrüstung: Bachofnerbogensport.ch, Strebel-bogensport.ch
Psychotherapeutisches Bogenschiessen: In der Schweiz nur vereinzelt bei Psychotherapeutinnen
Rehaklinik Hasliberg BE, Rehaklinik Barmelweid AG
Meditatives, traditionelles oder therapeutisches Bogenschiessen: