Ärzte verschreiben Cholesterinsenker immer häufiger: In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der verkauften Statin-Packungen in der Schweiz von 1,4 auf 2,3 Millionen. Das zeigen neue Zahlen der Branchenorganisation Interpharma. Zu den Statinen gehören Crestor, Sortis oder Zocor.
Die Idee, man müsse hohe Cholesterinwerte mit Medikamenten senken, geht auf die 1950er-Jahre zurück. Der US-amerikanische Forscher Ancel Keys behauptete, zu viel Cholesterin erhöhe das Risiko für Herzkrankheiten. Er hatte den Cholesterinwert der Einwohner von sieben Ländern gemessen und mit der Anzahl der Herzinfarkte verglichen. Die Folge von Keys’ Studien: Ärztegesellschaften senkten den Sollwert für das Cholesterin im Blut schrittweise. Dadurch gibt es immer mehr Betroffene, denen die Ärzte Statine verschreiben können.
Heute weiss man: Die Cholesterin-Theorie ist ein Trugschluss. Reinhard Imoberdorf, Chefarzt am Kantonsspital Winterthur: «Sie gehört zu den grössten Irrtümern, welche die Medizin produziert hat.» Denn Cholesterin ist kein Schadstoff, sondern ein lebensnotwendiger Stoff, der in jeder Zelle vorkommt. Der Körper produziert ihn zu einem grossen Teil selbst.
Eine neue Auswertung von US-amerikanischen Forschern zeigt: Die wenigsten Menschen profitieren von Statinen (siehe Unten).
Hoher Cholesterinwert allein schadet nicht
Bereits Ende der 1990er-Jahre klärte eine viel beachtete Untersuchung an der Bevölkerung des Städtchens Framingham im US-Bundesstaat Massachusetts den Irrtum: Ein hoher Cholesterinwert allein schadet dem Körper praktisch nicht. Das Risiko für Herzkrankheiten erhöht sich nur dann, wenn der Betroffene zusätzlich raucht, einen hohen Blutdruck hat oder schon einmal einen Herzinfarkt erlitten hat. Kritiker wiesen zudem nach, dass Ancel Keys Daten unterschlagen hatte, die nicht zu seiner Theorie passten.
Die Folge: Ärztegesellschaften orientieren sich nun nicht mehr ausschliesslich an Blutwerten, sondern am allgemeinen Risiko für einen Herzinfarkt. Wie gross das individuelle Risiko ist, kann man zum Beispiel auf der Website www.agla.ch der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose ausrechnen lassen.
Ärzte mit der Pharma-industrie verbandelt
Besonders tief setzte die US-amerikanische Fachgesellschaft die Schwelle an: Sie empfiehlt Statine schon ab einem Risiko für Herzkrankheiten von 7,5 Prozent. Die Schweizer Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose hingegen empfiehlt Statine ab einem Herzinfarktrisiko von 20 Prozent.
Doch auch dies konnte das Verschreiben der Statine nicht bremsen. Immer noch bekommen völlig gesunde Menschen solche Medikamente. Zum Beispiel Ruth Grossenbacher (Name geändert): Vor vier Jahren verschrieb ihr der Hausarzt das Medikament Crestor. Sie hatte einen leicht erhöhten Cholesterinwert, aber keine weiteren Risikofaktoren. Die 64-Jährige wurde misstrauisch. «Als ich meinen Arzt fragte, ob ich Crestor absetzen könne, sagte er, ich könne es probieren.»
Die Verschreibungswut ist kein Zufall: Die Ärztegesellschaften sind eng mit der Pharmaindustrie verbunden. Etzel Gysling, Herausgeber der Zeitschrift «Pharma-Kritik», sagt: «Die meisten Cholesterin-Experten sind von der Industrie beeinflusst, indem sie Geld für Studien oder Vorträge beziehen.»
Ein Blick auf die Websites von Ärztegesellschaften bestätigt die Verbindungen:
} Die Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose gibt auf ihrer Website an, Geld von den Statine-Herstellern Astrazeneca, Bristol-Myers Squibb und MSD erhalten zu haben. Beiträge kamen auch von acht weiteren Pharmafirmen. Laut dem Recherchezentrum Correctiv erhielten drei Vorstandsmitglieder Gelder von Pharmafirmen für Reisekosten, Tagungen und Honorare: Walter Riesen 1000 Franken, Paolo M. Suter 1112 und Rubino Mordasini 1679 Franken.
} 15 von 18 Autoren der Cholesterin-Leitlinie der European Society of Cardiology deklarieren Zahlungen von Medikamentenherstellern – für Vorträge, Beratungen oder Forschungsarbeiten. Auch zwei Schweizer Ärzte gehören dazu: Stephan Windecker vom Berner Inselspital und Oliver Gaemperli vom Zürcher Universitätsspital.
Vorbeugen bringt oft mehr als Medikamente
Für Fachleute ist klar: Nur Menschen mit einem hohen Risiko für Herzkrankheiten sollen Statine nehmen. Etzel Gysling sagt: «Statine sind sinnvoll, wenn jemand bereits eine Herzkrankheit hatte.» Auch bei vielen Diabetespatienten seien die Medikamente angezeigt. Bei gesunden Menschen könnten hingegen eine Gewichtsabnahme, mehr Sport, bessere Ernährungsgewohnheiten und ein Rauchstopp Herzkrankheiten oft «mindestens gleich gut vorbeugen» wie Medikamente.
Arnold von Eckardstein, Präsident der Arbeitsgruppe für Lipide und Atherosklerose, sagt zur Kritik, die Vorstandsmitglieder seien ehrenamtlich tätig. Die finanzielle Unterstützung durch die Industrie habe keinen Einfluss auf die Empfehlungen der Arbeitsgruppe. Die Arbeitsgruppe stufe weniger Menschen als behandlungsbedürftig ein als die europäische Fachgesellschaft.
Stephan Windecker vom Inselspital Bern sagt: «Der Austausch zwischen Experten und Industrie ist notwendig und erwünscht, solange die Experten klare Regeln der Transparenz befolgen.» Die von ihm deklarierten Gelder der Industrie fliessen laut Windecker in die Inselspital-Stiftung. Oliver Gaemperli vom Zürcher Universitätsspital sagt, die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und der Pharmaindustrie sei für die Entwicklung neuer Medikamente «sehr wichtig». Ohne finanzielle Mittel der Industrie könnten Spitäler grosse Zulassungsstudien nicht durchführen.
So wenig nützen Cholesterinsenker
Neue Studien zeigen, dass Pharmafirmen den Nutzen von Cholesterinsenkern in der Vergangenheit stark übertrieben haben.
Die US-amerikanische Forschergruppe The NNT hat vor drei Jahren berechnet, dass Statine nur 1 von 100 Menschen, die an einer Herzkrankheit leiden, das Leben retten. Fast 96 von 100 Patienten, die solche Medikamente schlucken, haben jedoch keinen Nutzen davon (Grafik Unten).
Bei gesunden Menschen verlängern die Statine praktisch nie Leben (Grafik rechts). Sie verursachen jedoch bei vielen Patienten schwere Nebenwirkungen wie Muskelschäden oder Diabetes.
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