Bei Eltern schlägt der Zürcher Kinderarzt X. Alarm. So im «Blick» vom 14. September: Ein Kind, das zu wenig rasch wachse, könne Nierenschäden oder Darmkrankheiten haben. Auch das Immunsystem könne versagen. Oder: Wer zu klein bleibe, laufe Gefahr, weniger zu verdienen. Und: «Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Körpergrösse und erfolgreicher Partnerwahl.» In der «Sonntagszeitung» vom 28. Juli warnte X., es sei «keine Bagatelle», wenn ein Kind ein paar Zentimeter zu klein sei.
X. hat ein Ziel. Er will neue Normen einführen für das Wachstum der Kinder. Dazu hat er eine Studie gemacht und neue Wachstumskurven entwickelt. Dank Wachstumskurven können Kinderärzte beurteilen, ob ein Kind genügend wächst oder ob es zu klein ist – und damit allenfalls ein Fall für Wachstumshormone. X. setzt die Kurve für die Kleinsten, so an, dass Tausende von Kindern bis zu 4 Zentimeter zu klein wären (siehe Grafik im PDF). «Blick» veröffentlichte die Daten, die noch keine Fachzeitschrift publiziert hatte.
Kinderärzte schütteln den Kopf. Kinderarzt und Buchautor Remo Largo sagt, die bestehende Wachstumskurve sei gut genug: «Ich glaube nicht, dass wir heute Wachstumsstörungen übersehen.» Für den deutschen Kinderarzt Steffen Rabe ist es «heikel», dass ein Kinderarzt die Wachstumskurve ändern möchte und so mehr Kinder ins Visier von Ärzten und der Hormon-Industrie kämen.
Spritzen kosten bis 40 000 Franken im Jahr
Das Behandeln mit Wachstumshormonen ist sehr teuer: Die Spritzen kosten pro Jahr bis zu 40 000 Franken. Ärzte behandeln Kinder oft zehn Jahre lang. Das ist auch für die Industrie ein Riesengeschäft: 25 Millionen setzte sie laut Branchenverband Interpharma 2018 in der Schweiz so um. Kommt dazu: Die Hormone haben starke Nebenwirkungen. Dazu gehören Stoffwechselstörungen oder ein gestörtes Körperempfinden wie Ameisenkribbeln.
Pikant: X. behandelt selber Kinder mit Wachstumshormonen – und verdient als Unternehmer mit. Er führt ein privates Institut, das Pädiatrisch-endokrinologische Zentrum Zürich, abgekürzt Pezz. Es klärt ab, ob Kinder Wachstumshormone brauchen und therapiert sie auch gleich. Das Pezz erwirtschaftete 2016 einen Reingewinn von 1,2 Millionen Franken. X. konnte zudem an den teuren Hormonen mitverdienen, lange bevor Ärzte in der Stadt Zürich Medikamente abgeben durften: Er übernahm 1994 die Schwanenapotheke in Schübelbach SZ. Seit 2012 dürfen in Zürich Ärzte selber Medikamente verkaufen – kurze Zeit später verkaufte X. die Apotheke.
X. schreibt dazu dem Gesundheitstipp, die geltenden Wachstumsnormen würden «grosses Leid» verursachen, weil sich die Diagnose von schweren Krankheiten verzögere. Deshalb müsse man auffällige Kinder abklären. Institute wie das Pezz seien «wichtige Forschungstreiber». Er habe eine Bewilligung, Medikamente abzugeben.
X. setzt sich seit Jahren dafür ein, dass man Kinder ausserhalb der Wachstumsnorm mit Hormonen behandeln soll – und erntet dafür Kritik von Fachleuten. Vor drei Jahren schrieb er ein Buch, in dem er empfahl, auch Kinder zu behandeln, die lediglich zu klein auf die Welt kamen. Solche Kinder darf man in der Schweiz bereits ab vier Jahren mit Hormonen behandeln. Doch der Nutzen ist unklar. Urs Zumsteg vom Universitätskinderspital beider Basel: «Fachleute haben von der Behandlung mehr erwartet.» Er berichtet von Kindern, denen man zehn Jahre Hormone gespritzt hat, für «2 bis 3 Zentimeter» mehr Körpergrösse. Auch Daniel Konrad vom Kinderspital Zürich sagt: «Nicht alle Kinder profitieren von der Behandlung.» Kommt dazu: Oft holen die Kinder mit den Jahren an Grösse auf. Eine deutsche Doktorarbeit kam schon 2008 zum Schluss: Kinder, die zu klein auf die Welt kamen, werden auch ohne Hormone normal gross.
Auch bei Kindern mit dem Prader-Willi-Syndrom setzte sich X. stark für eine Behandlung mit Wachstumshormonen ein und beteiligte sich an Studien. Bei diesem Syndrom handelt es sich um eine seltene genetische Störung. Kinder sind bereits nach der Geburt schwach, später entwickeln sie unkontrollierten Essdrang – doch die Kinder bleiben klein.
Aber die Therapie ist stark umstritten: Kinder mit Atemproblemen starben während der Behandlung. In England, Irland oder Spanien ist die Behandlung nicht zugelassen.
X. schreibt, das Behandeln der Kinder mit Wachstumshormonen sei von den Versicherungen «hoch reglementiert». Bei Kindern mit dem Prader-Willi-Syndrom würden Wachstumshormone die Muskelmasse fördern und damit auch den Kalorienverbrauch. Kinder würden sich mehr bewegen und würden «motorisch geschickter». Am Tod der Kinder seien «mit hoher Wahrscheinlichkeit» nicht die Hormone schuld.
X. lässt sich seine Projekte von der Pharmaindustrie finanzieren. In den letzten drei Jahren erhielt sein Institut von Novo Nordisk, Merck und Eli Lilly über 180 000 Franken. Novo Nordisk, Herstellerin von Wachstumshormonen, bezahlte auch X. Auftritt am diesjährigen Kinderärzte-Kongress im Juni in Bellinzona, wo er über zu kleine Kinder sprach. Das Unternehmen finanzierte auch Studien und Bücher. Für Kinderarzt Steffen Rabe ist klar: X. hat einen «Interessenkonflikt».
X. räumt ein, dass die Pharmaindustrie das Pezz direkt unterstützt, auch bei seiner Studie zu den neuen Wachstumsnormen. Die Industrie und Institute wie das Pezz würden einen «Austausch von Erkenntnissen» pflegen.
Intransparente Geldflüsse der Stiftung
Finanzielle Unterstützung erhält X. auch regelmässig von der «Stiftung Wachstum, Pubertät und Adoleszenz». X. hatte sie 1992 gegründet, bis 2004 sass er im Stiftungsrat. Die Geldflüsse der Stiftung sind intransparent. Pharmafirmen können über solche Stiftungen Forschungen und Projekte finanzieren, ohne dass sie das deklarieren müssen. Merck legt ihre Einlagen offen: 2017 fütterte sie die Stiftung mit 49 000 Franken, 2018 mit 38 000. Laut X. war die Stiftung über Jahre auch «der grösste Anbieter für Fortbildung in der Jugendmedizin in Zürich».
X. will sich zur Stiftung nicht äussern. Andreas Schlegel, Präsident des Stiftungsrats, bestätigt dem Gesundheitstipp, dass sie das Projekt von X. zu den neuen Wachstumsnormen mitfinanziert.
Aufruf: Haben Sie Erfahrungen mit Hormonen?
Schreiben Sie uns:
Redaktion Gesundheitstipp, «Hormone», Postfach 277, 8024 Zürich, redaktion@gesundheitstipp.ch