Diese Szene aus dem Kinofilm «Einer flog übers Kuckucksnest» aus dem Jahr 1975 ist wohl vielen in Erinnerung: Drei Wärter halten den aufmüpfigen Patienten Randle McMurphy fest. Eine Pflegerin drückt ihm eine Spange in den Mund, damit er sich nicht die Zunge abbeisst. Dann jagen ihm die Ärzte Stromstösse in den Kopf, um so epileptische Anfälle auszulösen. Auf diese Weise wollen sie McMurphy zur Ruhe bringen. Schwankend und mit starrem Blick kommt er danach aus dem Behandlungszimmer zurück – gebrochen.
Das Gleiche droht nun einem Mann in der Psychiatrischen Universitätsklinik Rheinau ZH. Die Ärzte wollen auch ihm eine solche Therapie verordnen, mehrmals und gegen seinen Willen. Denn der Mann leidet an Schizophrenie und ist seit einigen Jahren in der Psychiatrie. Zuvor war er als Kleinkrimineller aufgefallen. Ein Gutachter kam im Jahr 2019 zum Schluss, «ausreichende Geduld» und allenfalls Medikamente könnten dem Mann helfen. Dieser konnte sich mit Hilfe eines Anwalts noch vor der ersten Behandlung wehren. Sein Fall liegt zurzeit vor Bundesgericht.
Der Fall ist ein Extrembeispiel. Und doch zeigt er nur die Spitze des Eisbergs: Psychiatrische Kliniken verordnen häufig Therapien, in die Patienten nie eingewilligt haben. Das beginnt schon bei der Einweisung: In der Schweiz kommen jedes Jahr 16000 Personen zwangsweise in die Psychiatrie – diese Zahl liegt über dem Durchschnitt in Europa. So verbrachte zum Beispiel die 85-jährige Lucia Witte ihr ganzes Leben unfreiwillig in solchen Kliniken (Gesundheitstipp 1/2023).
In den Kliniken geht der Zwang oft weiter. Im Jahr 2021 griffen Ärzte im Klinikalltag fast 8000 Mal zu Zwangsmassnahmen, also bei 10 Prozent aller Behandlungen. Die Tendenz ist steigend (siehe Grafik im PDF). Vor allem drei Methoden stehen im Fokus der Kritiker:
Einsperren
Am häufigsten sperren Ärzte und Pfleger die Patienten für kurze Zeit in einen möglichst reizarmen Raum ein. Die Zimmer sind lediglich mit dem Allernötigsten ausgestattet. Es hat eine Matratze mit einer schweren Decke und manchmal ein WC. Im Jahr 2021 kam es insgesamt 6095 Mal zur Isolation – 1000 Mal so viel wie im Vorjahr. Für Betroffene ist das traumatisch.
Andrea Zwicknagl aus Bern hat selber Isolation erlebt. Sie kam vor 20 Jahren erstmals in eine psychiatrische Klinik. Diagnose: Psychose, später Schizophrenie. In die Isolation kam sie nach einem Suizidversuch. «Alle 15 Minuten kam jemand herein und kontrollierte, ob ich noch lebte», erinnert sie sich. «Aber niemand hatte Zeit, um mit mir zu reden.» Sie sei völlig aufgelöst gewesen. Sie sagt: «Ich hätte keine Isolation gebraucht, sondern jemanden, der einfach da ist und mit mir redet, mich wertschätzt – von Mensch zu Mensch.» Eine Studie bestätigt ihre Aussage. 2021 befragten deutsche Forscher Psychiatriepatienten. Mehrheitlich gaben diese an, sie hätten in der Notsituation ein Gespräch gebraucht.
Zwangsmedikation
Im Jahr 2021 gaben Ärzte ihren Patienten 2649 Mal zwangsweise Medikamente. Meist verabreichen sie starke Beruhigungsmittel über Infusionen oder Spritzen. Im Extremfall werden die Patienten dabei festgehalten. Andrea Zwicknagl erlebte auch das: «Fünf Männer packten mich und drückten mich zu Boden. Einer zog meine Hose herunter, ein anderer setzte mir eine Spritze in den Hintern.» Für die junge Frau war dies «die äusserste Erfahrung von Ohnmacht». Sie erinnert sich: «Es ist gewaltsam. Es bleibt im Kopf haften.» Bei späteren Klinikaufenthalten habe sie manchmal gehört: «Wenn du das Mittel nicht nimmst, wird es zwangsverordnet.» Die Stiftung Pro Mente Sana kritisiert: «Patienten haben in solchen Situationen kaum eine Wahl.»
Doch Psychopharmaka sind umstritten: Die Patienten verlieren dadurch den klaren Kopf, die Mittel sedieren sie und machen sie oft willenlos und apathisch. Deshalb haben viele Patienten davor Angst. Hinzu kommt: Der Nutzen ist umstritten. Der Berliner Psychiater Stefan Weinmann stellt in seinem Buch «Die Vermessung der Psychiatrie» fest: «Häufig resultiert eine dauerhafte Abhängigkeit.» Psychopharmaka über längere Zeit einzunehmen, ist laut Weinmann «eine Katastrophe».
Peter Gøtzsche, ehemaliger Direktor des Forschernetzwerks Cochrane, schrieb ein Buch mit dem Titel «Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen». Er ist überzeugt: Den meisten Betroffenen ginge es ohne Tabletten und Spritzen besser. Laut Psychiater Piet Westdijk aus Brugg AG «ist nicht bewiesen, dass eine bestimmte Dosis von Psychopharmaka die Gesundheit der Patienten positiv beeinflusst». Bei einigen könnten die Mittel helfen, bei anderen den Zustand aber gar verschlimmern.
Festbinden
Manchmal binden Pfleger Patienten mit Gurten am Bett fest. Sie fesseln sie an Armen, Beinen und am Bauch. In der Schweiz mussten das im Jahr 2021 rund 650 Patienten über sich ergehen lassen.
Davon betroffen war auch Martin Born aus Basel. Vor 20 Jahren hatte er erstmals eine Psychose: «Ich war sehr verwirrt und hatte Wahnvorstellungen.» Er ging freiwillig in eine Klinik und sollte sofort ein starkes Beruhigungsmittel nehmen. Doch der damals 30-Jährige hatte Angst: «Die Tablette schmeckte so bitter, dass ich es für Gift hielt, das mir feindliche Agenten verabreichen wollten.» Daher spuckte er die Pille wieder aus. «Ein Pfleger löste sofort Alarm aus», erinnert er sich. Weitere drei Männer kamen hinzu, überwältigten ihn, brachten ihn in ein Einzelzimmer und banden ihn am Bett fest – 48 Stunden lang.
«Es war traumatisch», sagt er. «Wegen der Fixierung bekam ich Angstzustände.» Manche Halluzinationen seien nur deswegen entstanden. Ihm kam es vor, als sehe er ständig an der Decke krabbelnde Babys. Sein Kopf war dabei stark zum Rücken hin gedreht. «Die Zwangsfixierung hat mich gebrochen», sagt er.
Österreichische Forscher befragten im Jahr 2011 Patienten, die das Fixieren erlebt hatten. Das Fazit: Patienten würden dies «überwiegend als belastend und traumatisierend» erleben. Viele kannten nicht einmal den Grund für das Festbinden. «Etwas Erniedrigenderes kann dir eigentlich nicht passieren», sagt ein Betroffener. Die Folge: «Nach dem Fixieren ist es oft so, dass man mit dem Personal gar nicht reden will oder nicht kann, weil das Vertrauen weg ist.»
Hinzu kommt: Das Festbinden schadet nicht nur seelisch, sondern manchmal auch körperlich. Deutsche Forscher werteten 2019 rund 70 Studien aus und stellten fest: Fixieren kann Patienten sogar töten. Manche starben, weil ihr Brustkorb beim Fixieren gequetscht wurde. Auch Lungenembolien traten auf.
«Zwang ist nie gerechtfertigt»
Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter schrieb im Jahr 2016, Patienten würden vereinzelt über mehrere Wochen fixiert. Das sei bedenklich. 2021 griffen Kliniken weniger häufig zu diesem Mittel als im Vorjahr (Grafik im PDF).
Experten kritisieren die Zwangsmassnahmen scharf. Pro Mente Sana sagt: «Jede Zwangsmassnahme ist ein grosser Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit.» Psychiater Westdijk hält Zwang nie für gerechtfertigt. Er sagt: «Die Massnahmen sind Ausdruck der Hilflosigkeit der Ärzte.» Der Zwang demütige und traumatisiere die Patienten. Sie verlieren das Vertrauen in die Therapie und das Personal. Genau dieses Vertrauen wäre für den Erfolg der Behandlung aber wichtig.
Eine Übersichtsarbeit des Netzwerks Cochrane kam im Jahr 2005 zum Schluss: Zwangsmassnahmen verbesserten die Situation der Patienten nicht. Die Forscher hatten 750 Patienten drei Jahre lang untersucht. Das Resultat: Ihr seelischer Zustand und ihre Lebensqualität waren nicht besser als bei Patienten mit freiwilliger Therapie.
Finnland zeigt: Es geht auch anders
Psychiater Weinmann schreibt in seinem Buch, Patienten sollten sich nur für kurze Zeit in psychiatrischen Kliniken aufhalten und danach zu Hause behandelt werden. In Finnland gibt es damit bereits langjährige Erfahrung. Leute mit schweren psychischen Problemen kommen nur im Notfall in eine Klinik. Stattdessen besuchen die Ärzte sie zu Hause. Die Experten beziehen die Familie und weitere Bezugspersonen sofort in die Therapie ein. Fachleute sprechen von «open dialogue».
Forscher verglichen eine auf diese Weise behandelte Patientengruppe mit Leuten, die konventionell behandelt wurden, über eine Zeit von 20 Jahren. Resultat: Patienten mit der Behandlung «open dialogue» waren weniger lang in der Klinik und brauchten weniger Medikamente. Eine weitere Studie zeigte: Die Diagnose Schizophrenie ist in Finnland seltener geworden. Die Zahl der Betroffenen sank pro 100000 Personen von 35 auf 7.
Eine ähnliche Behandlungsmethode hat die deutsche Psychiaterin Lieselotte Mahler mit ihrem «Weddinger Modell» entwickelt. Dabei besprechen Ärzte alle Therapien mit dem Patienten und seinen Ange-hörigen. Auch Mahler plädiert für offene Türen und nur im Notfall für Zwangsmassnahmen. Diese bespricht man im Nachhinein ausführlich. Mahler setzt ihr Modell im St.-Hedwig-Krankenhaus in Berlin um. Studien zeigten: Mahlers Patienten müssen seltener nochmals in eine Klinik und brauchen viel weniger Medikamente. In der Schweiz gibt es nur vereinzelt Kliniken, die nach solchen Ansätzen arbeiten.
Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich schreibt dem Gesundheitstipp, die Elektrokrampftherapie sei «eines der wirksamsten biologischen Verfahren in der Psychiatrie». Sie komme erst infrage, wenn andere Mittel nichts genützt hätten. Zum laufenden Verfahren äussert sie sich nicht. Die Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie sagt, Massnahmen, welche die Freiheit einschränken, seien immer Ultima Ratio. Die Anzahl der Massnahmen sage nichts über die Qualität der Versorgung aus. Für viele Leute bringe schon eine Nacht in der Klinik eine «Entlastung».