Schon bevor ich am Morgen am Arbeitsplatz bin, habe ich grossen Stress hinter mir. Ich muss alles Mögliche zwei-, dreimal kontrollieren: Habe ich den Herd abgestellt, die Wohnungstüre und alle Fenster geschlossen und das Licht gelöscht? Auch im Büro schaue ich jeweils dreimal nach, ob ich alles richtig geschrieben habe, ob das Kuvert zugeklebt ist und ob der Brief an die richtige Adresse geht. Dazu kommt der Druck, dass die Arbeitskollegen nichts von meinen Zwängen merken. Ich befürchte, dass sie sonst denken, ich sei nicht ganz normal.
Besonders schlimm ist es, wenn ich in den Ferien bin. Ich kann nicht loslassen. Ständig quälen mich Ängste und Zweifel: Was passiert, wenn ich zu Hause den Herd nicht ausgeschaltet habe? Habe ich auf der Heizung wirklich kein Tuch liegen lassen, das sich entflammen könnte? Wenn ich übers Wochenende verreiste, nahm ich oft das Bügeleisen mit ins Auto. Nur dann war ich 100-prozentig sicher, dass ich den Stecker tatsächlich ausgezogen hatte.
Ich fürchte mich auch panisch vor Bakterien: Alles, was am Boden liegt, ist für mich schmutzig. Fällt mir im Geschäft etwas aus der Hand, schleiche ich mich möglichst davon: Ich könnte mich nicht überwinden, den Gegenstand aufzuheben.
Ich vermute, dass meine Zwänge durch eine Beziehungskrise mit meinem damaligen Freund ausgelöst wurden. Das war vor zehn Jahren. Nach und nach fing ich an, alles zu kontrollieren. Ich realisierte, dass etwas nicht mehr stimmte mit mir. Das machte mich traurig und frustrierte mich.
Heute geht es mir wieder besser. Die Wende kam, als ich mit meinem neuen Partner zusammenzog. Seit ich mit ihm lebe, bin ich viel entspannter. Wenn er das Haus nach mir verlässt, mache ich mir weniger Sorgen, dass etwas passieren könnte. Trotzdem zweifle ich manchmal – selbst dann, wenn er mir versichert, es sei alles in Ordnung. Mein Verhalten ist bestimmt nicht immer leicht für ihn. Ich muss mich zusammenreissen, dass ich nicht allzu oft nachfrage, ob er zum Beispiel die Tür wirklich abgeschlossen oder den Herd ausgeschaltet hat. Denn ich will ihn nicht verlieren. Geholfen haben mir auch Antidepressiva und eine regelmässige Verhaltenstherapie. Deshalb brauche ich nur noch eine geringe Dosis der Pillen.
Meine Zwänge habe ich lange versteckt. Seit ich alles meinen Eltern und den nächsten Freunden erzählt habe, bin ich erleichtert. Jetzt kann ich erklären, weshalb mein Partner und ich keine Kinder wollen. Ich musste einsehen, dass ich überfordert wäre. Meine Bedenken sind zu gross, dass ich Stress und Ängste auf das Kind übertragen würde. Mein Partner und ich haben es auch so gut miteinander und konzentrieren uns auf ein schönes Leben ohne eigene Kinder.
Zwangsstörungen
Man ist verletzlich wegen einer früheren psychischen Belastung. Dann kann eine plötzliche Stresssituation genügen, dass man eine Zwangsstörung bekommt. Laut der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen können auch die Gene eine Rolle spielen. Zwänge treten in manchen Familien gehäuft auf. Sie beginnen meist im frühen Erwachsenenalter. Doch leiden viele Betroffene bereits in der Kindheit und Jugend daran. Eine Verhaltenstherapie in Kombination mit Medikamenten bessert die Krankheit in den meisten Fällen. Vollständig heilen lässt sie sich bis heute nicht.
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