Die Corona-Impfstoffe kamen im Rekordtempo auf den Markt. Nur ein Jahr nachdem man die Krankheit entdeckt hatte, liess die Arzneimittelbehörde Swissmedic die beiden Impfstoffe von Moderna und Pfizer zu. Fachleute waren skeptisch. Zu viele Fragen seien noch offen (Gesundheitstipp 12/2020). Heute sind laut dem Bundesamt für Gesundheit zwei von drei Personen ab 12 Jahren geimpft – und man weiss unterdessen deutlich mehr.
Unangenehme Nebenwirkungen
Studien zeigen: Die Impfstoffe sind keine Wundermittel. Vor allem beim heute verbreiteten Virus der Delta-Variante offenbaren beide Mittel deutliche Schwächen. So infizieren sich bei engem Kontakt mit einem Infizierten im Haushalt 122 von 1000 Personen – trotz Moderna-Impfung. Beim Pfizer-Impfstoff sind es möglicherweise bis zu 296 Personen (Tabelle Im PDF). Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie der Mayo-Klinik in den USA mit über 75000 Personen. Zum Vergleich: Bei den Ungeimpften infizieren sich 510 von 1000 Personen.
Zudem verursachen die Impfstoffe häufig unangenehme Nebenwirkungen. Dazu gehören Schmerzen im Arm, Müdigkeit, Kopfweh und Fieber. Das hatten bereits die Studien der Hersteller vom vergangenen Jahr gezeigt. Im April bestätigte eine unabhängige Analyse der US-Gesundheitsbehörde in Atlanta diese Ergebnisse: Rund drei Viertel der zwei Millionen US-Teilnehmer klagten nach der zweiten Impfung über Beschwerden wie Schmerzen, Fieber, Kopfweh und Müdigkeit. Die Nebenwirkungen dauerten im Durchschnitt ein bis zwei Tage und traten beim Moderna-Impfstoff häufiger auf als bei jenem von Pfizer. In der Schweiz gab es bis Anfang September 6603 Meldungen von Nebenwirkungen – bei total 5 Millionen geimpften Personen. 2161 Meldungen beurteilte Swissmedic als schwerwiegend.
Es ist unsicher, wie lange die Impfung schützt
Dazu kommt: Rund um die Impfstoffe ist bis heute vieles unklar. Zum Beispiel, wie ansteckend Geaimpfte bei einer Infektion sind. Laut der US-Gesundheitsbehörde ist die Menge an Viren bei ihnen genauso gross wie bei Ungeimpften. In neueren Studien schneiden die Impfstoffe diesbezüglich etwas besser ab. Eine Untersuchung von mehreren Spitälern in Singapur zeigte: Bei den Geimpften nahm die Virenmenge schneller wieder ab. Die Mediziner massen dafür regelmässig die Werte von rund 200 Covid-Patienten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Studie des Erasmus-Medical-Center in Rotterdam (NL). Die Forscher analysierten die Virenmengen von 161 Spitalmitarbeitern, die trotz Impfung leicht an Covid erkrankten. Innert drei Tagen sanken die Werte deutlich. Zudem waren ihre Viren im Labortest weniger häufig infektiös als die Proben von Ungeimpften.
Strittig ist auch, wie lange die Impfung genügend schützt. Hier gibt es erst Hinweise aus Herstellerstudien, die noch wenig Schlüsse zulassen. Andreas Widmer, Facharzt für Infektionskrankheiten am Universitätsspital Basel, sagt: «Niemand weiss, wie hoch der Antikörperspiegel im Blut noch sein muss, um vor einem schweren Verlauf zu schützen.» Klar sei lediglich, dass er mit der Zeit geringer werde, sowohl bei Geimpften als auch bei Genesenen.
Trotzdem haben einige Länder wie Frankreich, Israel und die USA bereits damit begonnen, ein drittes Mal zu impfen. Das soll den Schutz verbessern. Auch in der Schweiz steht die «Booster-Impfung» zur Diskussion. Bern und Basel setzen sie vereinzelt ein. Doch man weiss noch kaum, wem diese tatsächlich nützt. Der Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser schreibt in der unabhängigen Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm», die Datenmenge sei noch sehr begrenzt. Vertretbar sei eine dritte Impfung zurzeit bei den am stärksten gefährdeten Personen wie Pflegeheimbewohnern und Hochbetagten.
Trotz allen Schwächen und Unsicherheiten: Fachleute halten eine doppelte Impfung aller Erwachsenen und allenfalls auch von Teenagern für sinnvoll. Wolfgang Becker-Brüser sagt: «Sie verhindert schwere Verläufe noch immer in einem hohen Prozentsatz.» So müssen sich Geimpfte seltener im Spital wegen Covid behandeln lassen – von 1000 Personen sind es gerade mal 10 bei Moderna und 13 bei Pfizer. Zu diesem Schluss kam die erwähnte Studie der Mayo-Klinik. Insgesamt haben nur bis zu 80 von 1000 Geimpften überhaupt eine Infektion mit Beschwerden. Das ergaben Analysen der britischen Gesundheitsbehörde. Zum Vergleich: Bei den Ungeimpften sind es 380.
Geimpfte: Immunsystem könnte «dazulernen»
Eine Untersuchung des King’s College in London zeigte, dass Geimpfte weniger starke Beschwerden haben als Ungeimpfte. Husten und Fieber waren bei ihnen selten. Am häufigsten waren Kopfweh, eine laufende Nase, Niesen und Halsweh. Trotzdem müssen Geimpfte nicht sofort zum Test, falls sie leichte Erkältungsbeschwerden haben sollten. Andreas Widmer: «Ein Test ist nur dann angezeigt, wenn die Beschwerden länger als fünf bis zehn Tage dauern oder schlimmer werden.»
Einige Fachleute plädieren dafür, dass vollständig geimpfte Leute im Alltag etwas entspannter sein können. Der seit kurzem pensionierte Infektiologe Pietro Vernazza vom Kantonspital St. Gallen sieht sogar Vorteile, wenn Geimpfte in Kontakt mit dem Virus kommen. So könnte deren Immunsystem vielleicht «etwas dazulernen», um in Zukunft noch besser mit dem Virus zurechtzukommen, schreibt Vernazza auf der Website Infekt.ch.
Moderna schreibt, dass die Beschwerden nach dem Impfen mit ihrem Präparat nicht ungewöhnlich seien. Es habe sich gezeigt, dass bei den meisten Geimpften die Menge an Antikörpern bis zu sechs Monate lang bestehen bleibe. Eigene Tests mit einer dritten Impfung haben laut Moderna bisher gute Resultate gezeigt, auch gegen die Delta-Variante des Virus.
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