Heute lasse ich kein Fest mehr aus. Wenn mich jemand zum Geburtstag einlädt, freue ich mich schon Tage vorher. Immer gibt es Geschenke und gutes Essen. Es sind für mich wichtige Anlässe, um mich des Lebens zu freuen. Früher durfte ich das nicht: Ich war jahrelang bei den Zeugen Jehovas. Bei ihnen ist es verboten, Geburtstage und andere Feste zu feiern.
Bei den Zeugen Jehovas fühlte ich mich oft einsam. Denn ausserhalb der Sekte durfte ich keine Freunde haben. In der Schule war ich ein Aussenseiter. Und auch der Kontakt zu meinen Eltern litt, denn sie waren keine Zeugen Jehovas. Ich feierte ihre Geburtstage nicht mit, und an Weihnachten verkroch ich mich in meinem Zimmer. Das tat mir weh. Ich fühlte mich innerlich zerrissen, wurde immer unglücklicher und hatte irgendwann keinen Lebenswillen mehr. Die Zeit in der Sekte war für mich wie eine Vergewaltigung meiner Seele. Davon werde ich mich wohl nie wirklich erholen. Noch immer bin ich in Behandlung wegen Depressionen.
Als Jugendlicher hatte ich viele Fragen zu Leben und Tod. Die Zeugen Jehovas gaben die Antworten. Plötzlich machte alles Sinn. Mit 16 trat ich der Sekte offiziell bei – als einziger unserer Familie. Ich begann zu missionieren, ging von Tür zu Tür – bis zu 60 Stunden pro Monat. Daneben studierte ich die Bibel. Damit wollte ich Gott gefallen. Ich glaubte an den bevorstehenden Weltuntergang und daran, dass Gott böse Menschen vernichtet. Also machte ich alles, um zu den Guten zu gehören. Denn sie kommen ins Paradies.
Denke ich heute an die Sektenzeit zurück, sehe ich nur wenig Positives – vor allem, dass ich nie Drogen nahm. Viele Probleme anderer Jugendlicher waren mir fremd. Doch in meiner Jugend habe ich viel verpasst und das bereue ich sehr. Denn ich lebte in ständiger Angst, Fehler zu machen, für die mich Gott bestrafen könnte. Ich war sehr radikal. Zum Beispiel trennte ich mich von all meinen Madonna-CDs. Ihre Musik ist bei den Zeugen verpönt.
Als ich 22 war, erfüllte sich eine wichtige Prophezeiung nicht. Da machte es bei mir Klick: Ich fühlte mich zum ersten Mal manipuliert. Mein Hirn funktionierte wieder. Trotzdem fiel mir der Austritt schwer. Ich hatte ja niemanden ausserhalb der Sekte. Nach meinem Ausstieg ächteten mich die Zeugen.
Die Zeit nach der Sekte war wie ein grosses Abenteuer. Jede Woche lernte ich etwas Neues kennen. Mit 24 ging ich das erste Mal in den Ausgang und betrank mich so richtig. Das war zwar überhaupt nicht mein Ding, aber es tat gut, frei zu entscheiden.
Heute bin ich ein kritischer Geist. Um mich zu überzeugen, braucht es viel. Ich begründe Dinge gerne rational. Zehn Jahre lang wollte ich nichts mehr mit Religion zu tun haben, dann begann ich mein Studium als Religionswissenschafter. Heute bete ich wieder jeden Tag. Ich glaube an Gott. Aber mein Gott ist kein strafender. Er akzeptiert mich, wie ich bin.
So gelingt der Ausstieg aus der Sekte
Der Ausstieg ist schwer – vor allem, wenn der ganze Familien- und Freundeskreis in der Gemeinschaft ist. Vertiefen Sie Beziehungen zu Leuten ausserhalb der Sekte, zum Beispiel in der Verwandtschaft, am Arbeitsplatz oder in einem Verein. Kontaktieren Sie andere Aussteiger, denn sie wissen genau, wo die grossen Probleme liegen. Man findet sie über Beratungsstellen oder in Internetforen.
Susanne Schaaf von der Fachstelle für Sektenfragen, Infosekta, sagt: «Wichtig ist, dass die Betroffenen selber aktiv werden.» In der Sekte war oft alles vorgegeben. Nach dem Ausstieg muss man den Alltag selbst gestalten. Dabei könnten Selbsthilfegruppen und Psychotherapien helfen, sagt Schaaf.
Infosekta berät Betroffene und Angehörige: Infosekta.ch, Tel. 044 454 80 80