Rosmarie Brändle aus Othmarsingen AG ist fit und gesund: Die 67-Jährige joggt, nimmt an Volksläufen teil und fährt oft Velo. Sie sagt: «Ich rauche nicht, esse gesund und habe keine nahen Verwandten, die einen Herzinfarkt hatten.» Trotzdem hat sie vom Arzt Cholesterinsenker verschrieben bekommen. Der Grund: Ihr LDL-Wert im Blut ist erhöht, er betrug knapp 4,9 Einheiten (siehe Kasten).
Vielen geht es wie Rosmarie Brändle. Sie bekommen von ihrem Arzt Cholesterinsenker – bloss weil ihre Werte erhöht sind. Das nützt vor allem der Pharmaindustrie und ist unnötig, sagen Fachleute wie die Ärztin Stephanie Wolff aus Bülach ZH: «Sehr oft braucht es bei mässig erhöhten Werten keine Medikamente.» Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser bestätigt: «Ein erhöhter Cholesterinwert allein ist kaum gefährlich.» Beispiel: Bei einer 65-jährigen Frau ist das Risiko kleiner als 10 Prozent, dass sie damit einen Herzinfarkt hat (siehe Grafik im PDF). Cholesterinsenker sind bei Menschen, die noch nie einen Herzinfarkt oder Schlaganfall hatten, nur sinnvoll, wenn weitere Risikofaktoren hinzukommen.
Studien zeigen auch, dass Cholesterinsenker bei gesunden Menschen weder das Risiko für Schlaganfall noch das Sterberisiko verringern – selbst wenn das Cholesterin deutlich erhöht war. Das haben spanische Forscher 2018 herausgefunden. Sie untersuchten 46 000 Personen, die älter waren als 75 Jahre. Die Medikamente halfen nur jenen, die bereits Diabetes hatten. Die Studie wurde im renommierten Fachblatt «British Medical Journal» veröffentlicht.
Cholesterinsenker fördern Diabetes
Eine Studie des Cochrane-Forschernetzwerkes fand bereits 2013 heraus, dass Cholesterinsenker meist nur wenige Herzinfarkte verhindern. Die Forscher werteten die Daten von über 34 000 Personen aus, die Cholesterinsenker schluckten. Dazu gehörten Wirkstoffe, die in Medikamenten wie Sortis, Lescol oder Zocor vorkommen.
Kommt dazu: Die Medikamente verursachen oft Nebenwirkungen. Gemäss einer neuen kanadischen Studie hat jeder Zehnte, der Cholesterinsenker nimmt, Muskelschmerzen. So auch Gesundheitstipp-Leser Bruno Bernasconi (72) aus Niederweningen ZH. Er nahm während rund einem Jahr Cholesterinsenker und sagt: «Ich hatte fast täglich Schmerzen in den Armen oder Beinen.» Zudem hat der US-amerikanische Forscher Ishak Mansi gezeigt, dass Cholesterinsenker das Risiko für Diabetes um 87 Prozent erhöhen. Dazu analysierte er die Daten von rund 26 000 Personen.
Experten sind deshalb überzeugt: Bevor man Medikamente schluckt, sollte man versuchen, gesünder zu leben. Das empfiehlt der deutsche Arzt Ramon Martinez in seinem «Cholesterin-Buch»: Gesunde Ernährung mit viel Fisch, Gemüse, Vollkorn und Pflanzenfetten ist gut für Herz und Gefässe: Sie senkt nicht nur das Cholesterin, sondern auch den Blutdruck, reduziert Bauchfett und Diabetes – all das schützt vor Herzinfarkt und Schlaganfall. Wer abnimmt und sich regelmässig bewegt, profitiert zusätzlich. Reinhard Imoberdorf, Chefarzt am Kantonsspital Winterthur, fügt an: «Wer aufhört zu rauchen, kann sein Risiko für einen Herzinfarkt halbieren.» Er fasst zusammen: «Gesund essen, sich regelmässig bewegen und nicht rauchen ist besser für die Gesundheit als nur Cholesterinsenker zu schlucken.»
Im Internet kann man einfach herausfinden, ob man einen Cholesterinsenker braucht. Einzige Voraussetzung: Man muss seine Blutfettwerte und seinen Blutdruck kennen. Diese Werte kann der Hausarzt messen. Auf www.agla.ch gibt man die Werte ein. Danach errechnet ein Computer das Risiko für einen Herzinfarkt in den nächsten 10 Jahren. Liegt es über 20 Prozent, empfehlen die Ärzte einen Cholesterinsenker. Imoberdorf sagt: «In gewissen Fällen kann man auch bei einem hohen Risiko auf Medikamente verzichten.» Etwa, wenn der Patient aufhört zu rauchen. Liegt das Risiko unter 20 Prozent, sollte man mit dem Arzt besprechen, welche Alternativen es zu den Medikamenten gibt.
Rosmarie Brändle hat die Cholesterinsenker inzwischen abgesetzt. Ihr LDL-Wert liegt heute viel tiefer, bei 3,28 Einheiten – ganz ohne Medikamente.
Persönliches Risiko berechnen: https://www.agla.ch/risikoberechnung/agla-risikorechner
Cholesterin: Der Arzt misst vier Werte
Der Arzt misst vier Fettwerte: LDL-Cholesterin, HDL-Cholesterin, das Gesamtcholesterin und Triglyceride.
Das LDL-Cholesterin gilt als «böses» Cholesterin. Ist zu viel davon vorhanden, lagert es sich an den Blutgefässen ab, kann diese verengen und zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall führen. Bei Menschen mit niedrigem Herzinfarkt-Risiko gilt ein Wert von 3 Einheiten als normal.
Das HDL-Cholesterin gilt als «gutes» Cholesterin. Es löst -Ablagerungen aus den Blut-gefässen, transportiert Fett zur Leber und verbessert die Durchblutung.
Triglyceride sind ebenfalls Blutfette und dienen als Energiespeicher. Zu viele Triglyceride erhöhen das Risiko für Diabetes. Wenn zusätzlich zu viel HDL-Cholesterin vorhanden ist, steigt auch das Risiko für Herzinfarkt.