Roger Metzger aus Winterthur ZH ist ein begeisterter Velofahrer. Ende August unternahm er eine Tour im Tösstal. Beim Velofahren spürte er Schmerzen in der Brust. «Ich fuhr langsamer, und mit der Zeit liessen die Schmerzen nach», erzählt der 55-Jährige. Doch auf der nächsten Tour kamen die Schmerzen zurück, dazu spürte er ein Ziehen im rechten Arm.
Der Herzspezialist überwies ihn in die Notaufnahme des Kantonsspitals Winterthur. Dort wurde es Roger Metzger übel und schwarz vor den Augen – Herzinfarkt. Das Irritierende: Das hätte nicht passieren dürfen. Um einen Herzinfarkt zu verhindern, nahm Metzger seit einem Jahr den Cholesterinsenker Atorvastatin. Die Hausärztin hatte bei ihm erhöhte Cholesterinwerte festgestellt.
Medikamente verhindern Herzinfarkt kaum
Atorvastatin senkt zwar das schädliche LDL-Cholesterin. Aus diesem Grund hat die Heilmittelbehörde Swissmedic das Mittel zugelassen. Aber: Es ist unklar, ob es Herzinfarkte verhindern und damit das Leben verlängern kann. Das ist auch bei anderen Medikamenten so, die zur Gruppe der Statin-Cholesterinsenker gehören.
Zuletzt kam in diesem Jahr eine Übersichtsstudie zum Schluss: Statine verhindern kaum, dass man früher stirbt. Das gilt ebenso für Cholesterinsenker, die anders wirken als Statine. Beispiel Leqvio: Dabei handelt es sich um einen Antikörper, der Eiweissmoleküle auf der Zelloberfläche blockiert. So kann es das LDL-Cholesterin senken. Doch Fachleute wie Etzel Gysling von der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik» warnen: «Es ist nicht bewiesen, dass Leqvio Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindern kann.»
«Herzinfarkt hat meist mehrere Ursachen»
Fazit: Wenn ein Medikament den Cholesterinspiegel senkt, heisst das nicht, dass es vor einem Herzinfarkt schützt. Das sind gewissermassen zwei Paar Schuhe. Der Cholesterinwert im Blut ist offenbar nicht allein entscheidend, um einen allfälligen Herzinfarkt zu verhindern. Der britische Arzt Ben Goldacre schrieb in seinem Buch «Die Pharma-Lüge»: «Ein Nutzen für einen solchen Wert bedeutet oft keinen Nutzen für die Patienten.»
Roger Metzger hatte neben ungünstigen Cholesterinwerten auch einen erhöhten Blutdruck. Er nahm deswegen den Blutdrucksenker Amlodipin. Unbestritten ist: Amlodipin kann den Blutdruck senken. Doch auch hier gilt: Ob das Mittel das Leben verlängert, ist nicht sicher. Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser sagt: «Mit Amlodipin senkt man lediglich den Blutdruck – doch Herzinfarkte und Schlaganfälle haben meistens mehrere Ursachen.» Dazu zählen zum Beispiel erbliche Faktoren, ungesunde Ernährung, ein Mangel an Fitness oder Stress.
«Mittel wecken falsche Hoffnungen»
Bei vielen Krankheiten bekämpfen Medikamente bestimmte Werte, die nichts oder nur wenig mit dem Krankheitsverlauf zu tun haben. Beispiel Alzheimer: Betroffene haben Ablagerungen im Gehirn, sogenannte Plaques. Dabei handelt es sich um verklumpte Eiweisse. Die Heilmittelbehörde der USA liess vor kurzem das Mittel Aduhelm zu. Es kann solche Ablagerungen verhindern. Doch der Hersteller hat bis heute nicht belegt, dass es gegen die Vergesslichkeit oder die Verwirrtheit der Patienten hilft (siehe Tabelle im PDF).
Solche Beispiele gibt es auch bei Krebs: So liess die Heilmittelbehörde Swissmedic das Mittel Rubraca zu, weil es das Wachstum von Tumoren am Eierstock bremste. Kosten pro Monat: fast 7000 Franken. Doch es stellte sich heraus, dass Patientinnen deswegen nicht länger leben. Das heisst: Ob ein Patient am Krebs stirbt, hängt nicht nur vom Wachstum des Tumors ab.
Die Europäische Arzneimittelbehörde rät deshalb, Rubraca nicht mehr zu verschreiben. Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser sagt: «Solche Mittel wecken falsche Hoffnungen und kosten erst noch viel Geld.»
Sowohl Swissmedic als auch europäische Heilmittelbehörden haben solche Medikamente zugelassen – und arbeiten so in die Taschen der Pharmaindustrie. Die Fachzeitschrift «Gute Pillen – schlechte Pillen» kritisiert die lasche Haltung der Behörden: Es sei offensichtlich einfacher, Effekte von Medikamenten auf bestimmte Messwerte zu prüfen, als zu untersuchen, ob die Mittel wirklich das Leben der Patienten verlängern. Pharmafirmen wollten die Mittel möglichst schnell auf den Markt bringen und damit Geld verdienen.
Patienten sollten bewährte Mittel wählen
Allerdings: Fachleute raten Patienten davon ab, auf die Medikamente zu verzichten, solange es keine bessere Alternative gibt. Patienten können sich aber schützen: Je länger ein Medikament auf dem Markt ist, desto grösser ist die Chance, dass es verlässliche Daten dazu gibt – also ob es den Krankheitsverlauf bremst oder gar die Sterblichkeit vermindert.
Gesundheitstipp-Arzt Walser rät Patienten, «vom Hausarzt ein Medikament zu verlangen, das schon mindestens fünf Jahre auf dem Markt ist». Wer einen hohen Blutdruck oder erhöhte Cholesterinwerte hat, kann mit dem Hausarzt auf Agla.ch das gesamte Risiko für einen Herzinfarkt berechnen. So lässt sich besser abschätzen, ob der Patient die Medikamente nehmen soll.
Der Gesundheitstipp hat in Zusammenarbeit mit Fachleuten mehrere Merkblätter zu Medikamenten bei hohem Blutdruck, Cholesterin oder Diabetes zusammengestellt (siehe Hinweis). Sie listen den bekannten Nutzen und die Nebenwirkungen der Mittel auf.
Cholesterin-, Blutdruck- und Blutzuckerwerte lassen sich zudem mit einem gesunden Lebensstil beeinflussen. Dazu gehört, sich mindestens drei Mal pro Woche so zu bewegen, dass man ins Schwitzen kommt. Zudem sollte man mediterran essen – mit viel Fisch, Gemüse, Früchten und Hülsenfrüchten, aber wenig tierischen Fetten.
Die Pharmafirmen berufen sich auf Swissmedic. Lasse diese ein Mekament zu, stelle sie damit fest, dass es wirke. Novartis schreibt, bis 2026 wisse man, ob ihr Medikament Leqvio auch Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindern könne. Biogen schreibt, Eiweissablagerungen seien ein Messwert, der «mit einiger Wahrscheinlichkeit» einen Nutzen vorhersagen könne.
Sanofi sagt, Lasix werde nicht primär dafür eingesetzt, um einen Herzinfarkt zu verhindern. Sandoz schreibt, hoher Blutdruck sei einer der grössten Risikofaktoren für Herzinfarkt. Bei Diabetespatienten reduziere das Senken von Blutzucker nicht immer die Sterblichkeit.
Gratis-Merkblätter: «Das hilft bei Bluthochdruck», «Cholesterin: So schützen Sie das Herz», «Diabetes-Medikamente»
Die Merkblätter lassen sich hier, hier und hier herunterladen.