Franziska Quadri ist fast vollständig gelähmt. Seit einem Gleitschirmunfall vor acht Jahren kann sie aus eigener Kraft nur noch ihren Kopf bewegen. «Mein Körper ist ein einziger, stechender Schmerz», sagt die 42-Jährige. Schmerzen, die durch eine Verletzung des Nervensystems verursacht werden, und starke Krämpfe quälen sie besonders. Dagegen hilft ihr Cannabis mit dem Inhaltsstoff Tetrahydrocannabinol, kurz THC. Noch raucht Quadri Cannabis, denn über die Lunge ist die Wirkung am besten. Die Cannabis-Zigarette hält ihr die Pflegerin an die Lippen. Seit neuestem experimentiert sie mit Backwaren – und mischt Cannabisblüten in deren Teig. «Durch das Cannabis konnte ich meine anderen Medikamente stark reduzieren», sagt Quadri.
Das Cannabis muss sie über die Strasse kaufen und baut es auch selber an. Cannabis mit THC ist in der Schweiz nicht zugelassen. Es untersteht dem Betäubungsmittelgesetz, denn es kann einen Rausch auslösen. Wer es zu medizinischen Zwecken möchte, braucht deshalb eine Bewilligung vom Bund.
«Diese Situation belastet mich, weil ich immer im Beschaffungsstress bin. Aber ein Tag ohne Cannabis wäre kaum auszuhalten», sagt die Patientin. Zudem wisse sie nie genau, was im Strassencannabis drin sei. Die richtige Dosierung muss sie selber herausfinden. Unterstützung von einem Arzt erhält sie dabei nicht.
Dabei ist es gerade der Wirkstoff THC, der das Cannabis medizinisch so wertvoll macht. Er könnte vielen Kranken den Alltag erleichtern. Denn immer mehr kommt aus: Es wirkt nicht nur gegen Schmerzen und Krämpfe. Studien belegen auch, dass die Pflanze Krebskranken hilft, die wegen Appetitlosigkeit stark an Gewicht verlieren oder durch eine Chemotherapie an Übelkeit und Erbrechen leiden.
Das staatliche Krebsinstitut in Bethesda (USA) verweist auf drei Studien, die eine Wirkung klar belegen konnten. Das Gleiche gilt bei Schlafstörungen und beim Tourette-Syndrom. Zudem gibt es Hinweise, dass Cannabis Krebszellen am Wachsen hindern kann, Heuschnupfen und Allergien lindert sowie gegen Depressionen und Angststörungen wirkt (siehe Tabelle im PDF).
Bewilligung nur für schwerkranke Patienten
THC-Cannabis ist stärker als das frei erhältliche CBD-Cannabis, das vorwiegend Cannabidiol enthält. Der Wirkstoff CBD löst keinen Rausch aus und untersteht deshalb nicht dem Betäubungsmittelgesetz. Auch CBD kann Schmerzen lindern, zum Beispiel bei der Mens (siehe Gesundheitstipp 9/17). Allerdings sagt Cannabis-Spezialist Manfred Fankhauser von der Bahnhofapotheke in Langnau im Emmental BE: «CBD wirkt gegen weniger Krankheiten als THC.» Zudem sei nur THC gut erforscht.
Trotz des medizinischen Nutzens ist die Hürde hoch, Produkte aus THC-Cannabis zu erhalten. Eine Bewilligung gibt es nur für schwerkranke Patienten, bei denen andere Therapien nicht mehr wirken. Ein Arzt muss sie beantragen, die Verantwortung tragen und alle sechs Monate einen Zwischenbericht erstellen. Die Krankenkassen sind nicht verpflichtet, die Kosten zu übernehmen.
Das ist ein Problem, denn laut dem Medical Cannabis-Verein Schweiz kosten zugelassene Cannabispräparate zehnmal so viel wie Cannabis von der Strasse. Wegen der hohen Kosten würden viele Patienten – trotz Sonderbewilligung – ihr Medikament selber anbauen oder auf dem Schwarzmarkt kaufen.
Auch Franziska Quadri hat eine Bewilligung. Doch die Cannabistinktur, die sie in der Apotheke beziehen darf, kostet 550 Franken pro Flasche. Die Unfallversicherung zahlt ihr zwei Flaschen im Monat – zu wenig. Monatlich muss Quadri für ihren Cannabisbedarf etwa 600 Franken aus eigener Tasche zahlen.
Zudem: Wer eine Sonderbewilligung möchte, scheitere oft bereits bei der Suche nach einem Arzt, der willens ist, das Mittel zu empfehlen, sagt Rudolf Brenneisen, Leiter der Schweizer Arbeitsgruppe für Cannabinoide in der Medizin: «Die meisten Ärzte wissen noch zu wenig übers Medikament Cannabis und fürchten sich vor dem Negativimage als Kifferdroge», sagt er. «Auch haben sie keine Lust auf den Papierkrieg mit den Beörden.»
Medikament selber «zusammenbasteln»
Der einzige Apotheker, der in der Schweiz auch natürliche Cannabistinkturen für medizinische Zwecke verkaufen darf, ist Manfred Fankhauser. Er kritisiert, dass sich Schwerkranke ihr Medikament «selber zusammenbasteln» müssen. 700 bis 800 Patienten mit einer Bewilligung beziehen die Präparate bei ihm.
Für Patientin Quadri ist klar: die Situation muss sich ändern. Die Präsidentin des Medical Cannabis Club Zürich hat deshalb eine klare Forderung: Das Beschaffen und der Anbau von Cannabis zu medizinischen Zwecken muss künftig legal sein, ebenso eine «sofortige unkomplizierte Ausnahmeregelung zur legalen Selbstmedikation».
Dem stimmen viele Experten zu. Bereits 2015 haben National- und Ständerat eine entsprechende Motion der Grünliberalen Partei angenommen. Darin forderte Nationalrätin Margrit Kessler, dass die administrativen Hürden abgebaut werden und die Therapie mit Arzneimitteln auf Cannabisbasis für schwere Krankheiten schneller möglich wird.
Adrien Kay vom Bundesamt für Gesundheit sagt, das Dossier werde dem Bundesrat «voraussichtlich im Frühling 2018» unterbreitet. Erst dann könne man sich dazu äussern.